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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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wandelnder Vorwurf auf sie, so dass sie auf ihn reizbar reagierte. Er hatte das nicht verdient, aber Ana Carolina konnte sich trotzdem nicht gut verstellen. Es war das Beste für ihn, wenn er ihr nicht zu nahekam, zumindest so lange, bis sie über die Enttäuschung mit António hinweg war.
    Sie zog sich für die Fahrt zum Bahnhof um, denn zum Autofahren war anderes Schuhwerk angemessen, und für das Gerempel auf dem Bahnsteig empfahl sich Kleidung in schmutzunempfindlichen Farben. Sie sah ein wenig burschikos aus in ihrem braunen Hosenrock, der beigefarbenen Bluse und den abgetragenen Tretern. Aber es war ihr gleichgültig. Sie würde ja nur ihre Cousine abholen und nicht jemanden, den man mit glamouröser Garderobe beeindrucken musste. Sie verabschiedete sich von ihren Eltern und hörte sich die unvermeidlichen Ratschläge an.
Fahr vorsichtig. Achte auf Taschendiebe. Nimm nicht die Strecke über die Avenida Central, da ist es zu gefährlich.
Ja, ja. Sie wusste, welche Gefahren in Rio lauerten, auf Automobilisten genauso wie auf Fußgänger oder Bahnreisende. Sie würde sich vorsehen.
    Die Fahrt verlief ereignislos. Vor dem Bahnhof musste sie um einen Parkplatz kämpfen, den ihr ein dreister Kerl vor der Nase wegschnappen wollte, doch sie setzte sich durch. Das hob ihre Laune beträchtlich. Im Innern des Bahnhofs herrschte ein unvorstellbares Gedränge. Der 16 -Uhr-Zug aus São Paulo, der von Rio aus weiter gen Norden fuhr, war immer voll, und auf dem Bahnsteig tummelten sich Reisende, Abholer, Kofferträger, Schuhputzer, Getränkeverkäufer, Zeitungsjungen sowie allerlei nicht näher zuzuordnende Gestalten, unter denen sich garantiert auch Taschendiebe befanden. Eine Familie, deren Hund sich von der Leine losgerissen hatte, stürzte dieses bunte Durcheinander vollends ins Chaos, weil eines der Kinder hinter dem Hund herjagte und die Mutter hinter dem Kind. Wer nicht rechtzeitig zur Seite sprang, wurde einfach weggeschubst, und der uniformierte Bahnbeamte, der mit seiner Trillerpfeife für Ordnung sorgen wollte, war schweißüberströmt und völlig überfordert mit der Situation. Ana Carolina hatte sich gegen eine Litfaßsäule gelehnt, wo sie vor dem allgemeinen Trubel und der hektischen Verfolgungsjagd einigermaßen sicher war. Wie gern hätte sie jetzt die Kamera dabeigehabt! Sie sah einige Szenen, die sich auf einem Foto sicher gut gemacht hätten.
    Dann kündigte sich der Zug an. Da Ana Carolina keinen Zweifel daran hatte, dass Marie und Maurice erster Klasse reisten, hatte sie sich an der entsprechenden Stelle des Bahnsteigs postiert. Sie würde die beiden trotz der tumultartigen Zustände schon entdecken. Mit kreischenden Bremsen, einem schrillen Hupen und in einer Wolke aus Dampf rollte die Eisenbahn in den Bahnhof ein. Ana Carolina hielt sich die Ohren zu. Als der Zug angehalten hatte und die Türen von den Schaffnern geöffnet wurden, brach beinahe eine Panik aus, so arg war das Gedränge. Passagiere, die aussteigen wollten und nicht herauskamen, weil sich vor den Türen andere drängten, die hineinwollten, schimpften und fluchten lauthals, andere Menschen fielen einander lachend oder weinend in die Arme, wieder andere standen nur mit suchender oder hilfloser Miene herum und blockierten den Durchgang.
    Ana konnte nicht anders: Sie prustete los. Es war alles so verrückt und durcheinander, so prall und bunt und lebhaft, dass man einfach lachen musste. Es war eine köstliche Szene. Das Unglaublichste daran aber war, dass sich das Ganze sehr schnell in Wohlgefallen aufgelöst haben würde. So war es immer. Früher oder später fanden sich Reisende und Abholer, gelangten alle aus dem Zug heraus oder in ihn hinein, wurden weggelaufene Hunde und Kinder wieder eingesammelt, fand das Gepäck seinen Bestimmungsort.
    »Du siehst aus wie eine Schwachsinnige, wie du hier stehst und lachst«, schimpfte Marie, die plötzlich wie aus dem Nichts vor Ana Carolina aufgetaucht war.
    »Marie! Maurice! Lasst euch drücken!«
    Nach der Begrüßung musterte Marie ihre Cousine von Kopf bis Fuß und meinte: »Um genau zu sein, siehst du aus wie ein schwachsinniger Bauerntrampel. Wo hast du nur diese unsäglichen Kleider her?«
    Ana Carolina lachte und drehte sich, um Marie die Kluft von allen Seiten bewundern zu lassen. »Zauberhaft, oder?«
    Marie selber war elegant gekleidet, als wäre sie gerade auf dem Weg zu einem offiziellen Empfang. Ihre Frisur saß perfekt, ihre Schminke war frisch aufgetragen. Sie musste einen Großteil

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