Unter den Sternen von Rio
wahr, weder die Serviererin, die um seinen Tisch scharwenzelte und missbilligende Blicke auf sein halbvolles Glas warf, noch die anderen Zuschauer, die an ihren Tischen redeten, lachten und tranken, als gebe es gar keine Bühne, auf der sich eine Künstlerin abmühte.
Wobei Bel sich eigentlich nicht besonders anstrengen musste. Dass die Zuschauer ihr nicht ihre volle Aufmerksamkeit schenkten, kannte sie bereits aus dem anderen Club. Anfangs hatte es sie gestört, doch mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Sie hatte begriffen, dass es nicht an ihrer Darbietung lag. Selbst wenn sie alles gab, wenn sie tanzte und sang wie eine Göttin, waren die Leute mehr mit sich selbst beschäftigt. Das war nun einmal der Grund für sie, in ein
café-teatro
zu gehen, dass sie dort in schönem Ambiente trinken und plaudern konnten. Einzig in Gesprächspausen oder wenn die Leute sich nichts zu sagen hatten, heuchelten sie Interesse an der Musik. Es gab nur sehr wenige Gäste, die allein wegen des Unterhaltungsprogramms kamen.
Heute war Bel in guter Form und bester Laune. Sie freute sich, dass Augusto da war, und das leichte Lampenfieber, das sie angesichts ihrer Premiere in diesem Etablissement befallen hatte, sorgte dafür, dass sie sich von ihrer besten Seite zeigte. Die Männer aus der Band waren gut, das hatte sie schon am Nachmittag bei der Probe gehört. Die Akustik in dem Saal war hervorragend dafür geeignet, dass sie durchs Publikum tänzeln und die Leute an ihren Tischen direkt ansingen konnte. Das kam immer gut an. Wenn sie bei einer Herrenrunde haltmachte, sich zu den Männern hinabbeugte und ihnen einen Blick in ihr Dekolleté erlaubte, kam jedes Mal Stimmung auf. Auch an Tischen, an denen Paare saßen, konnte Bel, etwa mit der pantomimischen Darstellung einer Eifersuchtsszene, die Gäste amüsieren und für sich interessieren. Diese Art der direkten Ansprache war außerdem ideal, um die Höhe des Trinkgelds deutlich zu steigern. Niemand, an dessen Tisch sie singend geflirtet oder Amor gespielt hatte, ließ sich lumpen.
Augusto war hingerissen. Als Bel an seinen Tisch kam, sang sie einen
choro,
der von unerwiderter Liebe und großem Herzeleid handelte, und sie stellte die verschmähte Dame mit so großer Ausdruckskraft dar, dass Augusto Hoffnung zu schöpfen begann. Ob Bel vielleicht doch mehr an ihm gelegen war, als er glaubte? Nur eine Minute später schwand sein verhaltener Optimismus, denn an einem anderen Tisch spielte Bel mit ähnlicher Inbrunst die unglückliche Liebende. Es war eine Runde von fünf Männern, die offensichtlich den Geburtstag des Ältesten von ihnen feierten, der zugleich auch derjenige war, der das Sagen hatte. Bel schlug sich verzweifelt auf die Brust, verzog das Gesicht zu einem Ausdruck schmerzlicher Leidenschaft, deutete an, sich auf den Schoß des Chefs zu setzen, nur um gleich darauf aufzuspringen und sich von ihm abzuwenden, als könne sie die Seelenpein nicht länger ertragen.
Augusto war fasziniert. Bels Darbietung war phantastisch, die Männer waren begeistert. Woher kannte sie nur dieses ganze Spektrum an Gefühlsregungen, die sie so überzeugend darstellte? Sie war gerade 17 Jahre alt geworden und hatte, soweit Augusto unterrichtet war, weder die unendliche Liebe noch große Tragödien je am eigenen Leib erfahren. Wenn man sie jedoch so sah, musste man glauben, dass sie eine deutlich ältere Frau mit dramatischer Vergangenheit war.
Der Applaus wurde mit jedem Stück, das Bel gab, stärker. Als sie sich nach rund einem Dutzend Liedern verabschieden wollte, bejubelte das Publikum sie enthusiastisch und verlangte nach einer Zugabe. Bel zierte sich ein wenig, entsprach dann aber dem Wunsch der Leute. Sie sang, zum zweiten Mal an diesem Abend, ihren Erfolg »Frutas Doces«, bevor sie sich endgültig hinter den Vorhang zurückzog.
In ihrer winzigen Garderobe – die sie dank ihres Verhandlungsgeschicks für sich allein hatte – setzte Bel den unförmigen Hut ab, bevor sie sich vor dem Frisiertisch niederließ. Sie schaute in ein Gesicht, das vor Triumph glühte. Ihr gefiel, was sie sah. Sie goss sich ein Glas Wasser aus der bereitstehenden Karaffe ein und prostete ihrem Spiegelbild zu: »Gut gemacht, Bela Bel.« In diesem Augenblick klopfte es. Bevor sie auch nur »herein« rufen konnte, öffnete sich die Tür, und vier der fünf Männer von dem Geburtstagstisch traten ein.
»Sie waren grandios, meine Liebe«, beglückwünschte sie der Älteste, der, wie sie ganz richtig
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