Unter den Sternen von Rio
waren, während die Admiralsgattin allmählich eine leicht säuerliche Miene zeigte. Auch der Spross des Carvalho-Packs, António, schien sie hier noch nicht entdeckt zu haben. Er unterhielt sich angeregt mit seiner Schwester – denn das musste sie sein, die Ähnlichkeit mit der Mutter war unverkennbar – und interessierte sich anscheinend nicht im mindesten für die anderen Gäste des Diners. Er konnte nicht wissen, dass Ana Carolina hier war, und solange er nicht gezielt nach ihr suchte, würde er sie wohl kaum entdecken, es sei denn, durch einen blöden Zufall. Aber den würde sie, Vitória Castro da Silva, hoffentlich zu verhindern wissen. Eigentlich musste sie nur die Pause überstehen, denn mit Beginn der Tombola wären alle Blicke nach vorn aufs Podium gerichtet. Danach würde sie sich ihre Tochter schnappen und so schnell wie möglich abfahren.
Doch dann sah sie wie in Zeitlupe genau jene Szene ablaufen, die sie sich am wenigsten gewünscht hatte. Der attraktive António und seine hübsche Schwester – womit hatte dieses Gesindel eigentlich so schöne Kinder verdient? – standen auf und bewegten sich genau auf ihren Tisch zu. Verflucht! Was gab es denn in dieser Richtung? Der Weg zu den Waschräumen oder zur Terrasse hätte sie nicht hier entlanggeführt. Vitória sah sich um, bis ihr Blick schließlich bei einer Gruppe junger Leute hängen blieb, die die beiden Carvalhos zu sich winkten. Herrgott noch mal, sie musste sich schnell etwas einfallen lassen, damit Ana Carolina und António einander nicht entdeckten! Sie stieß mit dem Ellbogen gegen ihre Espressotasse, in der Hoffnung, dass diese vom Tisch fallen und Ana Carolina sich bücken würde, um verschütteten Kaffee von ihren Füßen zu tupfen.
Ihr Plan schien aufzugehen. Die Tasse landete genau dort, wo Vitória sie haben wollte, und der kleine Rest des schon kalten Kaffees machte allerliebste Spritzer auf ihren sowie Ana Carolinas Beinen und Füßen. »Wie ungeschickt von mir!«, rief sie aus und beugte sich unter die Tischplatte, um hektisch mit einer Serviette die Flecken aufzutupfen.
»Lass mich das machen,
mãe
«, sagte Ana Carolina und bückte sich ebenfalls. Unter dem Tisch stießen sie fast mit den Köpfen zusammen. Sie sahen sich an und begannen zu kichern. Für einen kurzen Moment waren sie wie Freundinnen, Komplizinnen, und Vitória war glücklich, dass ihre Notlösung zu einem solchen Ergebnis geführt hatte.
Doch ihre Freude währte nicht lange. Denn als sie sich wieder aufrichteten, sah Ana Carolina entgeistert ihrem heimlichen Verehrer nach, der gerade an ihrem Tisch vorbeispaziert war. Vitória erstarrte innerlich. Ihre Tochter würde ihm doch nicht etwa nachrufen oder ihm gar hinterherlaufen? Nein, stellte sie beruhigt fest. Ana Carolina tat nichts dergleichen. Allerdings sah sie aus, als ob sie einen Geist gesehen hätte.
War das wirklich António gewesen?, fragte Ana Carolina sich. Aber ja, dieses leichte Humpeln, das er von seinem Unfall zurückbehalten haben musste, die elegante Gestalt und das verwuschelte Haar, das anscheinend jedem Versuch, es zu bändigen, trotzte – das war unverkennbar António. Er hatte lässig den Arm um eine hübsche junge Frau gelegt, die dann ja wohl seine Ehefrau sein dürfte. Oh, mein Gott. Wie gut, dass er sie nicht gesehen hatte, weil sie gerade unter dem Tisch beschäftigt gewesen war. Merkwürdiger Zufall eigentlich, dachte sie, dass ihre sonst so geschickte und vorsichtige Mutter in genau der richtigen Sekunde die Tasse umgestoßen hatte. Forschend sah sie Dona Vitória an, die aber lächelte nur und fragte: »Alles in Ordnung, Schatz?«
Nein, nichts war in Ordnung, hätte sie schreien mögen. »Aber ja, was soll denn sein?«, entgegnete sie. Unauffällig warf sie einen weiteren Blick in die Richtung, in die António und seine Frau gegangen waren. Sie begrüßten reihum eine Runde junger Leute, wobei António seiner Frau gerade liebevoll den Abdruck eines Lippenstiftes von der Wange wischte, den das Küsschen einer Bekannten dort hinterlassen hatte. Die beiden wirkten sehr vertraut miteinander und strahlten große Harmonie und Intimität aus. Seine Frau war bildhübsch und äußerst modisch gekleidet, ohne übertrieben herausgeputzt zu sein. Sie hatte Klasse – was sie in Ana Carolinas Augen nur noch verabscheuenswürdiger machte. Das Paar war sich seiner Attraktivität und seiner Stellung in der Welt so gewiss, dass sie sich nicht ein einziges Mal umsahen, ob sie auch bloß von
Weitere Kostenlose Bücher