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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Aufmerksamkeit war. Wer könnte es ihr verdenken? Die eigene Tochter hatte Dona Alma praktisch vor die Tür gesetzt, damals, als sie vor dem Ruin standen – das zumindest war die Version, die Ana Carolina von ihrer
avó
gehört hatte.
    Als sie an der Endstation der Zahnradbahn ankamen, waren noch einige Treppen zu erklimmen, bevor sie den
Chapéu do Sol
erreichten, den »Sonnenhut«, wie die Cariocas den Aussichtspavillon wegen seiner Form getauft hatten. Von dort wiederum ging es noch einige Meter weiter hinauf zu dem höchsten Punkt des Berges, an dem nun die kolossale Christusstatue errichtet werden sollte.
    »Es ist ja noch gar nichts zu sehen«, beklagte Dona Alma sich.
    »Nein, ihnen ist das Geld ausgegangen«, erklärte Ana Carolina.
    »Das ist mal wieder typisch für dieses schreckliche Land.«
    »Wahrscheinlich haben Sie recht.«
    »Sollte die Statue nicht schon 1922 fertig sein, anlässlich der Weltausstellung sowie des 100 . Jahrestages der Unabhängigkeit von Portugal? Ein Jubiläum übrigens, das meiner Meinung nach betrauert und nicht gefeiert werden sollte.«
    »Ja«, antwortete Ana Carolina, »sollte sie.« Ein diffuses Gefühl von Schuld durchflutete sie, als sei es ihr persönliches Versäumnis, die Statue nicht rechtzeitig gebaut zu haben.
    »Wenn das nicht ein Wink Gottes ist … Unser Herr im Himmel wollte nicht, dass sein Sohn als Symbol für etwas missbraucht wird, was nur das Ergebnis von Sittenlosigkeit, Überheblichkeit und Undank ist, mit anderen Worten: die Ablösung Brasiliens vom Mutterland Portugal.«
    Ana Carolina konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die Ansichten ihrer Großmutter waren derartig antiquiert, dass sie sich auf eine Diskussion darüber gar nicht erst einließ. Sie würde die wirren Gedanken im Kopf einer alten Frau doch nicht mehr ordnen können. Und wofür auch? Sollte Dona Alma doch weiterhin an die Allmacht und Überlegenheit Portugals glauben, sie schadete ja niemandem damit.
    »Kommen Sie,
avó,
lassen Sie uns Henrique suchen. Er wird Ihnen die genaueren Gründe für die Verzögerung viel besser erklären können als ich.«
    Sehr langsam und schwer atmend erklomm Dona Alma auf ihren Gehstock gestützt nun auch das letzte Stück bis zum höchsten Punkt des Berges. Doch obwohl es ein normaler Werktag war und eine Uhrzeit, um die üblicherweise gearbeitet wurde, war die Baustelle verwaist. »Dein Verlobter scheint nicht hier zu sein«, bemerkte Dona Alma.
    »Nein. Wie schade. Jetzt sind Sie all die Treppenstufen umsonst hinaufgestiegen – das tut mir leid.«
    »Ach was, das muss dir doch nicht leidtun. Ein wenig körperliche Ertüchtigung bekommt mir gut. Und die Aussicht ist wirklich phantastisch, allein dafür hat es sich ja gelohnt.«
    Es waren die ersten positiven Worte, die Dona Alma für Rio fand, fast schon ein Grund zur Besorgnis, dachte Ana Carolina. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Großmutter ohne Rücksicht auf deren Alter oder physische Verfassung herumschleppte und erst jetzt merkte, dass es der alten Dame vielleicht ein bisschen viel wurde. »Kommen Sie, lassen Sie uns einen Kaffee trinken«, schlug sie vor.
    Sie gingen langsam zurück zum »Sonnenhut«, wo trotz des strahlenden Sonnenscheins heute Vormittag nicht viele Gäste waren. Ein paar ausländische Touristen, eine kleine Gruppe von Schülern, ein junges Paar … Ana Carolina sah noch einmal genauer hin. Das gab es doch gar nicht – António samt Gemahlin!
    »Kennst du diese Leute?«, fragte Dona Alma, die Ana Carolinas Erschrecken beobachtet hatte.
    »Flüchtig«, erwiderte Ana Carolina. »Der Mann ist der Sohn des Erzfeindes meiner Mutter.«
    »Na, das macht ihn doch sofort sympathisch, nicht wahr?«
    Ana Carolina lachte, vielleicht ein wenig zu aufgesetzt und zu laut, denn plötzlich schauten ein paar der anwesenden Personen zu ihr herüber. Auch António drehte neugierig und überrascht den Kopf. Als ihre Blicke sich trafen, zog er eine Augenbraue hoch und deutete ein Nicken an.
    »Was ist? Willst du die beiden nicht an unseren Tisch bitten?«, fragte Dona Alma.
    »Eigentlich nicht«, antwortete Ana Carolina, doch da kam António schon auf sie zugehumpelt, den Arm um seine schöne Frau gelegt.
    Ana Carolinas Herz schlug Kapriolen.
    »Senhorita Ana Carolina, wie schön, Sie hier oben zu treffen!«, begrüßte er sie.
    »Das Vergnügen ist ganz meinerseits«, erwiderte Ana Carolina steif. »Ich darf Sie miteinander bekannt machen? Dona Alma, das ist António

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