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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Beste so. Er hätte auf Dauer ohnehin nicht mit dem schrecklichen Geheimnis und seinem schlechten Gewissen leben können. »Woher weißt du davon?«, fragte er.
    »Spielt das eine Rolle? Du hast das heulende Elend anscheinend nicht, weil du Reue empfindest, sondern weil du erwischt worden bist.«
    »Nein!«, rief er aus. »So ist es nicht. Ich fühle mich erbärmlich, glaub mir. Ich hätte irgendetwas unternehmen müssen, das weiß ich. Aber in der Situation … es war so … es schien mir unmöglich zu handeln. Es war immerhin mein Auftraggeber.«
    »Was?«, fragte Ana Carolina bestürzt nach. »Welcher? Passos?«
    Henrique nickte.
    »Oh, mein Gott, das macht die ganze Sache ja noch widerlicher. Das arme, arme Mädchen.«
    »Kennst du sie? Hat sie dir davon erzählt?«
    »Ich kenne sie nicht persönlich, nein. Aber ihren Vater kenne ich, zumindest vom Sehen. Er behauptet immer, er sei ein Neffe meiner Mutter, aber ich halte es eigentlich für eine Art schlechten Scherz unter den beiden.«
    »Soll das heißen …?«, fragte Henrique erschrocken nach.
    »Genau das heißt es. Er hat Dona Vitória davon erzählt.« Ana Carolina beobachtete verächtlich, wie Henriques Gesichtszüge entglitten. War es ihm schon peinlich gewesen, dass sie von der Geschichte erfahren hatte, so war es ihm geradezu unerträglich, dass auch seine künftige Schwiegermutter davon wusste.
    »Keine Bange, sie kann Geheimnisse für sich behalten.«
     
    Vitória überlegte, wie sie ihr Wissen am sinnvollsten einsetzen konnte – wenn sie es denn überhaupt tun sollte. Dieser Mistkerl Passos war ihr schon länger ein Dorn im Auge, und hier bot sich ihr nun eine gute Gelegenheit, dem Verbrecher eins auszuwischen. Denn es konnte nur Passos gewesen sein, der seinen Geburtstag dort gefeiert und sich mit seinen Mitarbeitern umgeben hatte, das passte zu ihm. Aber erstens missfiel es ihr, von dem Unglück des Mädchens zu profitieren. Und zweitens hatte sie keinerlei Beweise außer der Aussage des armen Opfers beziehungsweise der ihres Vaters. Wahrscheinlich schwieg das Mädchen ganz bewusst; sie schien die Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders zwischen Schwarz und Weiß besser begriffen zu haben als ihr Vater. Einem dunkelhäutigen Mädchen, das auch noch als Tänzerin aufgetreten war, würde man einen lasterhaften Lebenswandel unterstellen, und es gab keinen Richter im Land, der ihr nicht wenigstens eine Mitschuld zusprechen würde.
    Einen Teil der Schuld trug in ihren Augen auch Felipe da Silva – dass er ihren Mädchennamen trug, ärgerte sie, war aber, da ja sein Vater noch »im Besitz« ihres Vaters gewesen war, üblich. Wie konnte der Mann nur seiner minderjährigen Tochter erlauben, als Tänzerin oder Sängerin oder was auch immer aufzutreten? Das war doch verantwortungslos! Da war der Ärger schon abzusehen gewesen. Und hatte er denn keine Frau, das Mädchen keine Mutter, die vernunftbegabter war als die beiden und die dafür hätte sorgen können, dass die Tochter sich anständig benimmt? Bei den Besitzlosen aus den Favelas, da war es etwas anderes, oft hatten die Mädchen gar keine andere Überlebenschance, als sich zu prostituieren oder, nun ja, »Varieté-Künstlerin« zu werden, was ja praktisch dasselbe war, oder etwa nicht? Die Eltern, die mit ihrer großen Kinderschar überfordert und häufig dem Alkohol verfallen waren, konnten ihre flügge gewordenen Töchter auch nicht vor Unheil bewahren.
    Aber Felipe da Silva? Er war gebildet, erfolgreich und wahrscheinlich halbwegs wohlhabend. Seinen Kindern ließ er ganz bestimmt eine gute Bildung angedeihen und kümmerte sich auch sonst gut um sie. Wie also hatte es passieren können, dass die Tochter eines solchen Mannes auf Abwege geraten war? Der unangenehme Gedanke, dass es ihr selber mit Ana Carolina ja kaum anders ergangen war, fuhr ihr durch den Kopf. Fast hätte sie die peinliche Episode verdrängt, als ihre Tochter meinte, sich als Garderobiere in einem Casino verdingen zu müssen, was kaum besser war, als wenn sie dort auf der Bühne gestanden oder am Piano gesessen hätte. Die Männer glaubten ja doch immer, sie dürften glotzen und grabschen. Sie hatten Ana Carolina damals aus dem Etablissement herausgezerrt und sie an die kurze Leine gelegt, denn anders konnte man mit den jungen Dingern ja anscheinend kaum verfahren. Wer sich von ihrem Aussehen täuschen ließ – und oft sahen Minderjährige schon sehr erwachsen aus – und ihnen Freiheiten zugestand, für die sie einfach

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