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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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noch zu unerfahren waren, der hatte das Nachsehen.
    Was war überhaupt los mit den jungen Mädchen? Hatte denn keines von ihnen genügend Verstand, um sich mit etwas Handfestem zu beschäftigen, einen ordentlichen Beruf zu erlernen oder einer standesgemäßen Beschäftigung nachzugehen? Was war es nur, das die Mädchen glauben machte, sie seien allesamt Vamps, die mit göttinnengleichen Stimmen und Körpern gesegnet waren und denen deswegen Ruhm und Reichtum zustanden? Wieso hatten diese dummen Dinger nur alle das Bedürfnis, sich auf diese Weise zu produzieren? Wenn man sie so sah, in kniekurzen Kleidern, ohne Mieder drunter!, auf Stöckelschuhen und mit grell geschminkten Gesichtern, dann gingen Vierzehnjährige gut und gern für zwanzig durch. Das war gefährlich, denn obwohl die jungen Mädchen und Frauen sich ihrer Reize offenbar durchaus bewusst waren, hatten sie doch keinerlei Ahnung davon, was deren Zurschaustellung bei den Männern auslöste.
    War sie selber in jungen Jahren auch so gewesen? Vitória glaubte es nicht, gestand sich aber ein, dass es möglich war. Vieles wurde in der Erinnerung verzerrt oder geriet gar völlig in Vergessenheit. Das zuweilen vollkommen lächerliche Benehmen von Backfischen gehörte bestimmt dazu.
    Aber sie schweifte ab. Eigentlich hatte sie ja darüber nachdenken wollen, wie sie Passos angemessen »bestrafen« sollte, wobei er seine Strafe ja schon allein dafür verdiente, dass er ihr permanent die Filetgrundstücke vor der Nase wegkaufte. Henrique, den sie als Spitzel im Unternehmen ihres Konkurrenten hatte unterbringen wollen, taugte als Spion so gar nicht. Er war gänzlich auf das Fachliche konzentriert, was zwar für seine Kompetenz als Ingenieur sprach und auch für seine Integrität als Mensch, ihr aber herzlich wenig nützte. Da war der junge Mann, den Passos umgekehrt bei ihr eingeschleust hatte, bestimmt findiger. Vitória lächelte ein wenig bei der Vorstellung, wie sie und »ihr guter alter Freund« Virgílio Passos einander auf Schritt und Tritt auszutricksen versuchten. Das war doch das eigentlich Schöne am Geschäftsleben: Geld hatte sie genug, es ging nur ums Gewinnen.
     
    Die nächste Gelegenheit, Passos zu sehen und zu sprechen, ergab sich bereits wenige Tage später. In einem der zahlreichen Pavillons, die noch von der Weltausstellung 1922 stammten, wurde ein Wohltätigkeitsdiner gegeben. Wie paradox das war, sich mit den feinsten Delikatessen vollzustopfen, um den Hungernden in den Elendsvierteln zu helfen, dachte Vitória nicht zum ersten Mal. Jeder »Gast« des Diners zahlte eine horrende Summe, um an dem Gelage teilnehmen zu dürfen, und was nach Abzug der Kosten und der zweifellos hohen Aufwandsentschädigung, die die Organisatoren sich gönnten, noch übrig blieb, sollte an verschiedene Einrichtungen für Notleidende gespendet werden. Es war eine jener Veranstaltungen, zu der man einfach kommen
musste.
Alles, was in Rio Rang und Namen hatte, erschien – jeder, der es nicht tat, war als Geizkragen gebrandmarkt oder, noch schlimmer, als jemand, der in finanziellen Nöten steckte. Vitória passte der Termin gar nicht gut, so kurz vor der Hochzeit. Aber es ließ sich beim besten Willen nicht umgehen.
    Sie hatte zwei Plätze reserviert, für León und sich selbst. Aber León hatte just an diesem Abend eine unerklärliche Attacke von Atemnot bekommen – der alte Simulant! – und war damit für den Abend entschuldigt. Morgen ging es ihm sicher wieder blendend. Also hatte Vitória ihre Tochter gebeten, sie zu begleiten. Wider Erwarten war Ana Carolina ohne großes Murren mitgekommen. Vielleicht hatte sie darin eine willkommene Möglichkeit gesehen, dem Trubel daheim zu entkommen, vielleicht hatte sie aber auch nur einer plötzlichen Anwandlung von Tochterliebe nachgegeben, die sie in Kürze bereuen würde. Diese Veranstaltungen waren der Gipfel an Verlogenheit, Langeweile und Geschmacklosigkeit.
    Als sie von zu Hause losfuhren, war Vitória dennoch in außergewöhnlich guter Stimmung. Es passierte viel zu selten, dass sie und ihre Tochter etwas zu zweit unternahmen. Wenn sie dann, wie heute, so fein herausgeputzt waren, sorgten sie jedes Mal für Geraune und bewundernde Blicke. Mutter und Tochter, beide schön und einander so ähnlich, zumindest äußerlich, boten als Duo einfach einen hinreißenden Anblick. Vitória war stolz auf Ana Carolina und genoss es, sie zu präsentieren, insbesondere wenn sie beide auch durch ihre Kleidung eine Zugehörigkeit

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