Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
niedrigen Sitzmöbeln kam sie ohne fremde Hilfe nicht mehr heraus – und hielt den Griff eines Gehstocks, der zwischen ihren Knien stand, mit beiden Händen fest. Ihr feines weißes Haar hatte sie am Morgen von ihrer Begleiterin – einer jungen Frau, die Hausdame, Pflegerin und Unterhalterin war – frisieren lassen. Sie blickte streng drein, doch wer sie ein wenig besser kannte, sah, dass sie gut gelaunt und unternehmungslustig war.
    »Dona Alma!«, rief Ana Carolina erfreut aus, als sie die Lobby betrat und ihre Großmutter dort stocksteif sitzen sah, als gehöre sie zum Mobiliar. »Sie sehen wunderbar aus heute.« Das stimmte. Dona Alma hatte die Seefahrt mehr zugesetzt, als sie sich hatte eingestehen wollen, doch nun, nach ein paar ruhigen Nächten und entspannten Tagen an Land, war sie wieder in Form. Sogar das Klima, das sie als scheußlich, viel zu heiß und zu feucht, in Erinnerung gehabt hatte, empfand sie als angenehm. Überhaupt schien ihr heute vieles in Rio besser zu sein als früher. Es stank nicht mehr so erbärmlich, anscheinend funktionierte jetzt sogar in diesem schrecklichen Land die Kanalisation. Die vielen morschen Häuser, in denen nicht nur Ratten gehaust hatten, waren abgerissen und, vermutlich anlässlich der Weltausstellung, durch viele sehr schöne Gebäude und Paläste ersetzt worden. Es war alles in allem eine positive Überraschung, aber das hätte sie natürlich niemals zugegeben. Während ihr geliebtes Lissabon zusehends verfiel, wuchs und gedieh Rio.
    »Dasselbe kann man von dir leider nicht behaupten«, entgegnete die alte Dame auf das Kompliment. »Du siehst furchtbar aus in diesem dünnen Fähnchen und mit dem mickrigen Hut, der nicht einen Sonnenstrahl von dir fernhält.«
    Ana Carolina ging mit einem Lachen über die Bemerkung hinweg. Wenn sie, wie ihre Mutter es zweifellos getan hätte, darauf eingegangen wäre, womöglich noch in beleidigtem Ton, hätte sie Dona Alma ja quasi das Recht und die Fähigkeit zugesprochen, urteilen zu können. So aber gab sie ihr freundlich zu verstehen, dass sie keine Ahnung hatte und irgendwie süß war in ihrer altmodischen Rechtschaffenheit und Prüderie.
    Dona Alma wiederum fand die Unbekümmertheit der jungen Frau so herzerfrischend, dass sie ihr Lachen niemals als unangemessen oder gar unhöflich empfunden hätte. Sie hörte es so gern, dass sie Ana Carolina am liebsten den ganzen Tag lang mit kritischen Bemerkungen zu ihrem Äußeren traktiert hätte, nur um dieses herrlich perlende Lachen zu provozieren.
    »Kommen Sie,
avó,
lassen Sie uns zum Auto gehen. Ich habe es direkt vor dem Haupteingang stehen lassen dürfen, musste aber versprechen, dass es nicht lange dauert.«
    »Wo hättest du den Wagen denn sonst abstellen sollen? Vor dem Dienstboteneingang vielleicht?«, fragte Dona Alma pikiert.
    Abermals belohnte Ana Carolina ihre Äußerung mit einem unbeschwerten kleinen Kichern, bei dem Dona Alma das Herz aufging. Wie lieb und wie fröhlich ihre kleine Ana Carolina war – so hätte sie sich ihre eigene Tochter Vitória gewünscht. Aber die war nie auch nur annähernd so nett gewesen.
    »Heute fahren wir zum Corcovado hinauf, was halten Sie davon?«
    »Überhaupt nichts, mein liebes Mädchen. In dieser fürchterlichen Zahnradbahn wird man so fest in den Sitz gepresst, dass meine alten Knochen wahrscheinlich brechen werden.«
    »Gar nichts wird brechen. Es wird Ihnen gefallen. Der Himmel ist heute so klar wie selten, wir werden eine phänomenale Fernsicht haben. Außerdem treffen wir höchstwahrscheinlich Henrique, er ist am Bau der Christusstatue beteiligt.«
    »Ja, das erwähntest du bereits. Na schön, von mir aus. Der ›Cristo Redentor‹ rechtfertigt vielleicht diese anstrengende Fahrt.« In Wahrheit hätte Dona Alma ihre Enkelin bis ans Ende der Welt begleitet und noch sehr viel mehr Strapazen auf sich genommen. Sie liebte dieses Kind, oder besser, wie sie sich in Erinnerung rief, diese junge Frau. Es war schwer, Erwachsene als das wahrzunehmen, was sie waren, wenn man sie schon als Kinder gekannt hatte.
    Die Fahrt im Auto und dann in der Corcovado-Bahn verlief ereignislos. Wie Ana Carolina es nicht anders erwartet hatte, war Dona Alma über ihre Fahrweise, über den grässlichen Verkehr, über die unbequemen Holzbänke in der Bahn sowie über die anderen Passagiere entsetzt gewesen. Aber sie kannte ihre Großmutter, obwohl sie nur so wenig Zeit mit ihr verbracht hatte, und wusste, dass die ganze Nörgelei nur ein Ruf nach

Weitere Kostenlose Bücher