Unter den Sternen von Rio
war.
»Nichts! Gar nichts hat es zu bedeuten!«, zischte Vitória. »Dieser Mann ist ein Hochstapler und Betrüger. Er hält sich für meinen Neffen und drangsaliert mich und meine Familie schon seit Jahren.«
Auch León war nach vorn gekommen, genau wie das Brautpaar selber sowie Henriques Eltern. Noch versuchten alle gute Miene zum bösen Spiel zu machen, als handele es sich nur um einen unbedeutenden Zwischenfall und als sei die Hochzeit noch zu retten. Man sprach leise und gab sich besonnen.
»Exzellenz«, sagte Felipe ehrerbietig und kniete vor dem Mann nieder. Der Bischof brachte ihm augenblicklich Wohlwollen entgegen – anscheinend handelte es sich nicht um einen Verrückten, sondern um einen gut erzogenen, anständigen Mann. »Exzellenz, ich bedaure es zutiefst, diese schöne Zeremonie gestört zu haben. Aber es ließ sich nicht vermeiden. Ich sehe es als meine Christenpflicht an, die Braut vor Schlimmerem zu bewahren und diesem Mann«, hier deutete er auf Henrique, »Einhalt zu gebieten. Wenn Sie mir nicht glauben: Fragen Sie ihn selber.«
Aller Augen richteten sich nun auf Henrique. Der war nur mehr ein Schatten seiner selbst. Er zitterte am ganzen Leib und brachte kein Wort heraus. Er schüttelte nur den Kopf, immer und immer wieder, wie ein Schwachsinniger.
»Sprich, Sohn«, forderte ihn sein Vater auf. »Was hast du verbrochen?«
»Nichts«, stammelte Henrique. »Ich habe nur … oh Gott!« Er schlug die Hände vors Gesicht und weinte so heftig, dass sein Körper bebte.
Der Bischof gab dem Organisten ein Zeichen, etwas zu spielen, um das immer aufgeregtere Stimmengewirr zu übertönen. Es erklang ein grandioses »Te Deum«. Großer Gott, wir loben dich – wie passend, dachte Ana Carolina zynisch.
Der Bischof legte Henrique beruhigend seine beringte Hand auf die Schulter. »Sehen Sie sich in der Lage, die gegen Sie erhobenen Vorwürfe zu entkräften, junger Mann? Ansonsten schlage ich vor, dass wir die Hochzeit verschieben.«
»Wie stellen Sie sich das vor, Exzellenz? Das geht nicht! All die Gäste, all …«, beinahe wäre Vitória herausgerutscht: »all die Kosten«, doch das hatte sie in letzter Sekunde heruntergeschluckt und stattdessen eine ausholende unbestimmte Geste mit dem Arm gemacht.
Ana Carolina ärgerte sich plötzlich. Warum wurde sie eigentlich nicht nach ihrer Meinung gefragt? Alles drehte sich um Henrique, um die entsetzten Eltern und den verzweifelten Ankläger, Felipe da Silva. Hatte sie als Braut denn gar nichts dazu zu sagen? Immerhin hätte sie alle damit brüskieren können, dass sie gestand, längst von Henriques Verbrechen gewusst zu haben. Und dann? Würde die Trauung dann weitergehen, als sei nichts gewesen? Ein Grund, der gegen eine Eheschließung sprach, war neben dem – unbewiesenen – Verbrechen auch ihre vermeintliche Unwissenheit. Ein Wort von ihr, und der Wirbel hätte sich sofort gelegt. Es würde reichen, wenn sie in gelangweilter Arroganz sagte: »Ach das? Ein lässliches Versäumnis, aber doch gewiss kein Verbrechen. Darum kann sich nach der Trauung gern die Polizei kümmern, wenn Senhor da Silva sie denn verständigt hat.« Doch sie sagte es nicht und wusste auch nicht, ob sie diese kühle Überlegenheit hätte spielen können. Im Grunde war sie ja diejenige, deren Vertrauen in Henrique am meisten gelitten hatte, deren Enttäuschung und Erschrecken über sein Verhalten am größten waren.
»Was soll das ganze Theater?«, hörte sie plötzlich Maries flüsternde Stimme an ihrem Ohr. »Soll ich dich aus diesem Tollhaus hinausbegleiten?«
»Das wäre vielleicht am besten«, antwortete sie.
»Ich gehe mit meiner Cousine vor die Tür, sie fühlt sich nicht wohl«, erklärte sie den Umstehenden, aber die waren weiterhin so mit sich selbst beschäftigt, dass sie die eigentliche Hauptperson nur am Rande wahrnahmen.
»Komm, schnell«, raunte sie Ana Carolina zu.
Die Gäste waren in heller Aufregung. Längst war die anfängliche vornehme Zurückhaltung einer hemmungslosen Sensationslüsternheit gewichen. Die Leute standen in Gruppen beisammen, erörterten die ungeheuerlichen Geschehnisse und beobachteten die Reaktionen der vor dem Altar versammelten Hauptakteure des Dramas. Zahlreiche Damen beäugten einander aus den Augenwinkeln: Wieso trug die korpulente Dona Teresa nur wieder ein so unvorteilhaftes Kleid? Was hatte denn Dona Isabel für ein scheußliches Ungetüm auf dem Kopf?
Männer wie Frauen, die schon einmal mit Dona Vitória und ihren
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