Unter den Sternen von Rio
Geschäftspraktiken in Berührung gekommen waren, mussten sich zwingen, ihre Schadenfreude nicht allzu deutlich zu zeigen, sondern eine angemessen verzweifelte Miene aufzusetzen. Der Bankdirektor samt Frau gehörte ebenso dazu wie der Hafenmeister und seine Gattin. Kaum jemand bemerkte in dem allgemeinen Trubel, dass Dona Alma, die Großmutter der Braut, einen Schwächeanfall erlitt. Nur Joana war zur Stelle, um sich um die alte Frau, die einmal ihre Schwiegermutter gewesen war, zu kümmern. Sie sorgte dafür, dass Dona Alma sich hinsetzte, öffnete ein paar Knöpfe ihres zu engen Oberteils, hob ihre Beine auf die Bank und fächelte ihr Luft zu. Dona Alma starb tausend Tode. Das Trauerspiel vor dem Altar war ja schon schlimm gewesen, aber dass sie jetzt auch noch halb entblößt in einer Kirche die Beine hochlegte, das war zu viel.
Ana Carolinas Brüder waren nach vorn gegangen, da sie als enge Familienmitglieder einen Anspruch auf Nähe zum Geschehen zu haben glaubten. Ihre Familien blieben auf ihren Plätzen, denn die Mütter versuchten ihre Kinder von den unerhörten Vorgängen abzulenken, indem sie mit ihnen Stein-Schere-Papier spielten. Maurice wiederum war aufgestanden und versuchte zu ergründen, was genau vorgefallen war. Niemand machte sich die Mühe, dem Franzosen den Vorwurf zu übersetzen, den der Mulatte ausgesprochen hatte.
In der hintersten Reihe, in der dunkelsten Ecke, saß António. Irgendeine selbstquälerische Regung hatte ihn veranlasst, zu dieser Hochzeit zu gehen, die in der Zeitung angekündigt worden war. Niemand hatte ihn aufgehalten, obwohl er nicht eingeladen war, und niemand hatte ihn bemerkt. Er hatte die Brautleute beobachtet, voller Neid und Selbstekel. Er hatte sogar selber damit geliebäugelt, bei der Frage nach einem Einwand aufzustehen und zu rufen: »Ja, ich möchte etwas sagen! Ich möchte Ana Carolina sagen, dass ich sie liebe und dass ich sie heiraten will!« Dass er es nicht getan hatte, war nicht allein dem Umstand zu verdanken, dass dieser farbige Mann ihm zuvorgekommen war, sondern auch Antónios eigener Besonnenheit. Was er zu sagen hatte, war kein Grund für die Nicht-Schließung einer Ehe. Er hätte es Caro längst sagen können.
Jetzt sah er sie am Arm ihrer Cousine durch den äußeren Gang huschen. Marie wirkte aufgekratzt und grinste wie ein Kind, dem ein toller Streich gelungen war, während Caro blass und apathisch wirkte. Er litt mit ihr, es musste schrecklich sein, wenn die eigene Hochzeit zu einem derartigen Fiasko ausartete. Gleichzeitig keimte Hoffnung in ihm auf. War er auf dem Hinweg noch in einer Laune gewesen, als ginge er zu seiner Hinrichtung, so war er jetzt, da er die Kirche unauffällig verließ, wieder voller Optimismus. Er schämte sich ein wenig für diese vollkommen egoistische Anwandlung – aber nicht so sehr, dass es ihm die rapide verbesserte Stimmung verdorben hätte.
Draußen lehnten die beiden Cousinen an dem opulent geschmückten Automobil der Brauteltern. Marie hatte den Arm um Caro gelegt, die vornübergebeugt dastand, die Hände vors Gesicht geschlagen. Als António sich ihnen näherte, blickte sie auf. Anders, als er erwartet hatte, war ihr Gesicht nicht tränennass.
»António, was machst du denn hier?«, fragte Marie erstaunt. Sie hatte ihn seit der Karnevalsparty nicht mehr gesehen. Man hatte ihr erzählt, dass er nach einem schweren Flugzeugunglück nicht in der Lage war, zu kommen. Offensichtlich ging es ihm aber doch nicht so schlecht. Wenn man von dem eleganten Holzstock mit Silberknauf absah, auf den er sich stützte, sah er glänzend aus.
»Dasselbe wie du, schätze ich. Ich hatte geglaubt, zu einer Hochzeit zu gehen – um festzustellen, dass ich im Zirkus gelandet bin.« An Caro gewandt, sagte er: »Ich bringe dich hier fort.« Es bedurfte keiner weiteren Erklärung, wie etwa der, dass die aufgeregte Menge in der Kirche jeden Augenblick voll Sensationsgier über Caro herfallen würde, wenn sie sie hier draußen sah.
Caro nickte. Sie wirkte benommen, als stünde sie unter dem Einfluss von Alkohol oder eines Beruhigungsmittels. Sie schaute durch ihn hindurch, als sie flüsterte: »Ja, ich glaube, das wird das Beste sein.«
»Marie«, sagte António, »bitte beschwichtige ihre Familie. Sag ihnen, Caro habe die Situation nicht ertragen und sei zu einem Spaziergang aufgebrochen oder etwas in der Art. Nicht, dass sie noch die Polizei rufen, um nach ihr suchen zu lassen.«
Marie war völlig perplex. Was geschah hier
Weitere Kostenlose Bücher