Unter den Sternen von Rio
gerade? Entführte António die Braut? Konnte sie das zulassen? Ana Carolina befand sich doch unübersehbar in einem Zustand vorübergehender geistiger Umnachtung – sollte da nicht sie, Marie, auf sie aufpassen, anstatt sie einem mehr oder weniger Fremden anzuvertrauen? Oder war er ihrer Cousine viel weniger fremd, als sie gedacht hatte? Wurde sie gerade Zeugin eines Wiedersehens von heimlichen Geliebten? War dies der Höhepunkt eines romantischen Dramas, wie sie es sonst nur aus Operetten kannte? Wie auch immer es sich verhielt: Sie nickte ergeben und überließ António die Braut.
Sie schaute den beiden nach. António humpelte und hatte den Arm um Ana Carolinas Taille gelegt, die wie willenlos neben ihm her wankte. Wie zwei Invaliden sahen sie aus, die einander Halt gaben. Marie seufzte leise. Denn obwohl sie so unbeholfen wirkten, erschienen sie ihr wie das schönste und perfekteste Paar, das sie je gesehen hatte.
32
W ohin fahren wir?«, fragte Caro matt.
»Ich denke, es gibt nur einen Ort auf der Welt, wo sie uns nicht suchen werden.«
»Und der wäre?«
»Die Hochzeitssuite.«
Caro sah António an, der konzentriert am Steuer seines Wagens saß. Er wirkte nicht so, als mache er Späße. Sie fühlte ein irres Kichern in sich aufsteigen und fragte sich, ob sie allmählich durchdrehte. »Das könnte klappen.«
»Wo habt ihr gebucht?«
»Im ›Palace‹.«
»Natürlich. Habt ihr für das Bankett dort auch den ›Salão Nobre‹ gemietet?«
»Nein. Den Festsaal haben wir im ›Hotel Glória‹ gebucht, weil es so schön nah an zu Hause ist, wo zunächst ein kleiner Empfang für die engsten Freunde und Angehörigen gegeben wird.« Sie schluckte schwer und verbesserte sich: »Gegeben werden sollte. Die große Feier ist erst für den Abend geplant. Und die Hochzeitssuite im ›Copacabana Palace‹ war meine Idee – ich wollte meine Hochzeitsnacht weder zu Hause verbringen noch im ›Hotel Glória‹, womöglich in dem Zimmer neben dem meiner Großmutter.« Bei der Erinnerung daran, was vorhin geschehen war und wie sich ihre Lieben, unter anderem Dona Alma, fühlen mussten, wenn sie die Flucht der Braut bemerkten, schlug Caro wieder vor Scham die Hände vors Gesicht. Was hatte sie nur getan? Dann straffte sie plötzlich die Schultern. »António, lass uns umkehren. Ich kann doch Henrique und meine Familie nicht mit diesem Horror allein lassen.«
»Warum nicht? Was kannst du dafür? Ich weiß zwar nicht, was Henrique verbrochen haben soll, und kann mir ihn absolut nicht als Verbrecher vorstellen, denn ich halte ihn für den friedfertigsten Menschen auf der Welt. Aber seine ganze Haltung drückte Schuld aus. Der Mann, der ihn da vor allen bloßgestellt hat, kam mir zudem nicht gerade wie ein Geistesgestörter vor – er schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein.«
»Ich erkläre es dir irgendwann einmal.«
»Du weißt also, um was es ging?«, fragte António ungläubig und starrte sie durchdringend an.
»Sieh bitte nach vorn, einen Verkehrsunfall brauche ich heute nicht auch noch. Es waren für einen Tag eh schon ein paar Abenteuer zu viel.«
»Warum hast du die Sache nicht aufgeklärt? Wieso hast du es da vorn, vor dem Altar, zum Eklat kommen lassen?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Caro lahm. »Ich war so … ich kann es nicht erklären … so weggetreten. Mein Hirn war wie benebelt. Und vielleicht habe ich mich im Grunde meines Herzens ja danach gesehnt, dass so etwas passiert. Dass mich ein Zufall rettet, wo ich selbst zu passiv dazu war.«
Das musste António erst einmal verdauen. Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas. Caro streifte die cremeweißen langen Handschuhe ab und legte sie auf die Rückbank, danach nestelte sie an ihrem Schleier herum, bis sie endlich all die Klammern und Kämme gelöst hatte, mit denen er befestigt gewesen war. Sie warf ihn einfach aus dem Fenster. Die Autos hinter und neben ihnen hupten, die Insassen winkten ihr zu. Sie mussten glauben, sie sei als Frischvermählte mit ihrem Bräutigam in die Flitterwochen unterwegs, und wünschten ihr wohl alles Gute. Nun, das jedenfalls konnte sie gebrauchen – Glück.
Danach fummelte sie umständlich unter ihrem Kleid an den Strümpfen herum, löste sie von dem Strumpfhalter, rollte sie herab und stopfte sie in die Falte zwischen Sitz und Rückenlehne. Ohne Handschuhe, Schleier und weiße Strümpfe sah sie wahrscheinlich schon gar nicht mehr wie eine Braut aus. Das Kleid wirkte zwar festlich, aber da es weder lang
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