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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Caro erst nach ein paar Sekunden als ihren Bruder erkannte. Eduardo. Was hatte der hier verloren? Bevor sie auch nur annähernd begreifen konnte, was vorging, war Eduardo bereits ins Schlafzimmer gestürmt und richtete eine Pistole auf die Gestalt im Bett.
    »Nein!«, schrie Caro und warf sich auf ihren Bruder. Doch der stieß sie grob beiseite, und zwar mit solcher Gewalt, dass sie stürzte und mit dem Kopf gegen die Kante der Kommode stieß. Im selben Moment, als sie das hässliche Geräusch von knackenden Knochen auf Holz hörte, löste sich der Schuss.
    Danach versank alles in Dunkelheit und Stille.

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    Teil   3
    1928
    34
    W ie hässlich der Schnee war! Hatte es nicht immer geheißen, er sei weiß? Sauber, klar, rein, kalt und eben »schneeweiß« – so hatte sie ihn sich vorgestellt. Jeder in den Tropen, der noch nie welchen gesehen hatte, stellte ihn sich so vor. Wie alle anderen hatte auch sie diese märchenhafte Vision von wirbelnden Schneeflocken gehabt, die sanft und weich zur Erde fielen, die der Welt einen besonderen Zauber verliehen und die Kinderaugen zum Leuchten brachten. Und nun musste sie feststellen, dass er grau, manchmal sogar schwarz war. Nass, kalt und schmutzig lag er in freudlosen Haufen an den Fahrbahnrändern oder in den Ecken der Treppenstufen, die zur Metro hinabführten. Vor den Geschäften hatten die Ladenbesitzer schmale Wege freigeräumt, und die kleinen Schneeberge auf den Bürgersteigen enthielten all den Straßenschmutz und die Abfälle, die die Pariser beim Flanieren fortwarfen. Es war überhaupt nicht schön anzusehen. Nur dort, wo keine Autos fuhren und kein Mensch ihn verunreinigen konnte, war der Schnee weiß: auf den Dächern, auf den kahlen Ästen der Bäume oder auf Schildern, wo er kleine Häubchen bildete.
    Bel war enttäuscht vom Winter in Europa. Die Kälte war unerträglich, selbst wenn man sich dick vermummt hatte. Ihre Nase lief unaufhörlich, ihre Augen tränten in der eisigen Luft. Die Leute waren allesamt mürrisch, was sie ihnen nicht verdenken konnte, denn sie selber war es auch. Und dann diese tote Natur: kein Grün, kein Vogelgezwitscher, kein Duft nach Erde, Blüten, Leben. Auf den Boulevards roch es nur nach Abgasen, in den Parks und öffentlichen Gärten – die diesen Namen nicht verdienten, denn es waren nur tote Brachflächen mit knorrigen Baumgerippen – roch es nach gar nichts, und in der Metro stank es geradezu. Wie aufregend sie sich die Fahrt mit der Metro vorgestellt hatte – und wie ernüchternd daneben die Realität aussah. Die Waggons waren immer überfüllt, die Leute verströmten in ihren feuchten Wollmänteln den Geruch nach nassem Hund und die unterirdischen, gefliesten Gänge den nach faulen Eiern.
    Das mit der Wintergarderobe hatte sie sich ebenfalls anders vorgestellt. Wie beinahe jede Carioca war Bel geradezu davon besessen, bei kühleren Temperaturen Schals und all die Dinge zu tragen, die man in der Sommerhitze nicht tragen konnte. Doch nun, da sie jeden dicken Wollstrumpf, jede lange Unterhose und jeden Schal bitter nötig hatte, um nicht zu erfrieren, hatte sie überhaupt keinen Spaß mehr daran. Warum zeigte man ihnen in den Magazinen immerzu Bilder von eleganten Damen in Pelzmänteln, nie aber solche mit nassen Schuhen, blau angelaufenen Lippen und elektrisch aufgeladenen Haaren? Warum hatte man ihr außerdem verschwiegen, dass die Tage im Winter so furchtbar kurz waren? Um vier Uhr nachmittags wurde es bereits dunkel, das war doch nicht normal. Kurz: Bel konnte ihr Glück, in Paris zu sein, nicht wirklich genießen.
    Augusto war dafür umso besser gelaunt. Nichts konnte seiner Hochstimmung einen Dämpfer versetzen, weder das nasskalte Wetter noch diese große, graue Stadt mit den vielen unhöflichen Leuten. Er genoss jede Sekunde. Das Leben war herrlich, und es würde sogar noch besser werden, das wusste er einfach. Denn dass Bels Show ein Erfolg würde, das stand für ihn fest. In dieser trüben Welt, in der die Bäume kein Laub trugen und in der die Menschen sich so zugeknöpft zeigten, musste, so sein Kalkül, die Sehnsucht nach Wärme, nach Farben, nach ein wenig nackter Haut und nach heißen Rhythmen gewaltig sein. Die Leute würden Bel feiern. In Scharen würden sie in das Varieté-Theater rennen, in dem sie ihr Engagement ergattert hatte, nur um sich von ihr für eine Weile aus dem tristen Alltag entführen zu lassen, um sich bei schnellen Sambas und koketten Choros fortträumen zu können aus diesem Elend, das

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