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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Er hatte sie mit Marie nach draußen gehen sehen und gedacht, dass sie nur etwas frische Luft schöpfen wollte. Doch das war schon mindestens eine halbe Stunde her.
    Marie richtete ihm Ana Carolinas Nachricht mit fast denselben Worten aus, die sie zuvor bei Henrique benutzt hatte.
    »Aber … du hast sie doch nicht etwa allein gehen lassen? Sie ist mit den Nerven am Ende, übermüdet und halb verhungert noch dazu. Nachher läuft sie noch vor ein Auto.«
    »Lass sie, Onkel León. Ich denke, ihr geht es den Umständen entsprechend gut.«
    León musterte streng das Gesicht Maries. Er hatte den Verdacht, dass sie mehr wusste, als sie zugab. Aber sie war anscheinend eine erfahrene Lügnerin, sie verzog keine Miene und hielt seinem forschenden Blick stand. »Ich glaube, Tante Vitória braucht deine Unterstützung jetzt mehr als sie«, fügte sie noch frech hinzu, bevor sie zu ihrem Mann und ihren eigenen Eltern ging. Auch denen musste sie die Nachricht vom geheimnisvollen Verschwinden Ana Carolinas überbringen.
    Während die meisten ihrer Verwandten mit Bestürzung oder Trauer reagierten, war Ana Carolinas Bruder Eduardo außer sich vor Zorn. »Was ist das für eine Schmierenkomödie?«, rief er erbost aus. Seine Frau und seine Kinder wichen erschrocken einen Schritt vor ihm zurück. »Was hat das zu bedeuten?«, fuhr er seine Mutter an, doch die stellte sich dumm und wies ihn scharf zurecht, er möge nicht in diesem Ton mit ihr reden.
    Auch bei Henrique wurde Eduardo laut, doch der war wie in Trance und zu keiner Antwort fähig. Schließlich schrie er, in Ermangelung eines anderen Opfers, seine Frau und seine Kinder an, sie sollten ihn gefälligst nicht anglotzen, als seien sie hypnotisierte Karnickel. Erst seinem Bruder Pedro gelang es, ihn zur Räson zu bringen und aus der Kirche zu lotsen. Draußen tobte er noch eine Weile weiter, aber an der frischen Luft und ohne Publikum, auf dem friedlichen, baumumstandenen Kirchplatz, verpuffte sein Zorn endlich.
    Dona Alma war nur halb so schwach, wie alle zu glauben schienen. Kurzzeitig war ihr die Luft weggeblieben, aber jetzt ging es ihr wieder gut. Ungläubig, halb amüsiert und halb empört, beobachtete sie das Treiben. Das, dachte sie, war doch wirklich einmal eine Hochzeit, an die sich jeder würde erinnern können. Noch in fünfzig oder mehr Jahren würde Ana Carolina ihren Enkeln davon erzählen, und dann würde das arme Kind auch darüber lachen können. Aber jetzt war sie sicher außer sich vor Kummer, Scham und Aufregung. Man hätte sie, da musste sie ihrem Schwiegersohn León ausnahmsweise recht geben, nicht allein fortgehen lassen dürfen. Ebenfalls klug war sein Vorschlag gewesen, sie sollten jetzt alle nach Hause fahren. Die Luft in dieser Kirche war schlecht, es roch durchdringend nach Weihrauch und den Blumen, mit denen sie geschmückt war und die allein sicher ein Vermögen gekostet hatten. Außerdem war es hier drin zu kalt. Sie zog ihre Stola enger um sich und bat Joana, sie nach Hause zu begleiten.
    Maurice hatte zwar den genauen Wortlaut des Vorwurfs nicht verstanden, mit dem dieser Neger die Hochzeit sabotiert hatte, aber er hatte durchaus begriffen, dass er Zeuge eines skandalösen Vorgangs geworden war. Insgeheim amüsierte er sich königlich. Es hätte eine Filmszene sein können, mit Charles Chaplin als trotteligem Bräutigam und der schönen Mary Pickford als zu Tode betrübter Braut. Er warf seinem Schwiegervater Max einen Seitenblick zu, um zu sehen, ob auch dieser die Komik der Situation erkannte. Ihre Blicke trafen sich, und die Andeutung eines Zwinkerns aus Max’ grauen Augen sagte Maurice alles. Er hatte einen Verbündeten. Natürlich würden sie später betroffene Mienen zur Schau stellen und ihre große Sorge um alle Beteiligten äußern. Aber im Grunde dachten beide dasselbe: Was für ein undiszipliniertes, melodramatisches Volk diese Brasilianer doch waren!
     
    Es war schon nach Mittag, als endlich alle Familienmitglieder in dem großen Haus in Glória eingetroffen waren. Vitória hatte als Erstes im Hotel schräg gegenüber angerufen, um die große Feier abzusagen, worüber der Hoteldirektor sich sehr echauffiert hatte. Natürlich würde sie die Kosten übernehmen, hatte sie ihn beschwichtigt, woraufhin der Mann sich wieder abgeregt hatte.
    Die Hausangestellten, die mit einem Empfang und rund achtzig Gästen gerechnet hatten, reichten nun die Platten mit den Häppchen sowie die Champagnergläser unter den Angehörigen herum, die sich

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