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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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irgendeine ähnliche Geschichte passiert war, vor Urzeiten. Aber mehr als leises Interesse weckte auch das nicht in ihr.
    »Er sieht ein bisschen aus wie León, nicht wahr?«, fragte Dona Vitória nach intensivem Studium des zerknautschten Gesichtchens. Das Baby sah anfangs überhaupt niemandem ähnlich, fand Ana Carolina, und jeder Vergleich grenzte an Beleidigung.
    »Ich finde, es hat etwas von deinem Bruder, Vita.« Gemeint war Ana Carolinas Onkel Pedro, der lange vor ihrer Geburt gestorben war und von dem Ana Carolina nur sepiabraune Fotos gesehen hatte, auf denen er, wie alle Leute damals, mit schreckgeweiteten Augen in die Kamera blickte.
     
    Und so gingen die Tage dahin, in einlullender Monotonie, angefüllt von einer Routine, die sich um die Befriedigung der elementarsten körperlichen Bedürfnisse drehte, vor allem um die Nahrungsaufnahme. Dabei war diese Ana Carolina überhaupt nicht mehr wichtig. Sie aß, um satt zu werden. Appetit hatte sie schon lange keinen mehr. Dennoch fuhr sie regelmäßig mit einem der Mädchen einkaufen, besprach den Speiseplan für die Woche mit der Köchin und unterhielt sich mit der
babá
über die Ernährung des Kindes. Ab und zu ließ sie sich von einem der Männer, die sich nebenbei auch um den kleinen Küchengarten kümmerten, erzählen, welche Früchte der Saison gerade verfügbar waren oder was dringend verarbeitet werden musste. Von morgens bis abends drehte sich alles ums Essen, eben die Sache, die Ana Carolina so egal war. Sie hätte sich auch ausschließlich von weißem Reis ernähren können.
    Sie wusste, dass die Leute im Dorf sie für verschroben hielten, vermutlich sogar für geistig umnachtet. Sie wusste ebenfalls, dass es auf Dauer nicht so weitergehen konnte. Ihr Sohn brauchte Spielkameraden und echtes Leben um sich herum, nicht dieses Surrogat von Leben, das sie ihm hier bot. Sie musste sich wieder der Realität stellen. Am klügsten wäre es gewesen, wieder nach Rio zu gehen. Dort hätte sie sich im Elternhaus verkriechen können, während ihr Sohn die Gelegenheit bekäme, normal aufzuwachsen. Bald schon wäre er in einem Alter, in dem es ihm guttun würde, Gleichaltrige zu treffen und Dinge zu erleben, die es hier auf dem Land nicht gab. Sie könnten mit dem Boot durch die Guanabara-Bucht tuckern oder im Luna-Park mit dem Riesenrad fahren, ins Kino gehen oder am Strand im Sand spielen.
    Allein die Vorstellung ließ Ana Carolina schaudern. Sie wollte nicht zurück nach Rio. Sie wollte hier sein und ihre Ruhe haben.
    Dann kam eines Tages ein Brief, der alles änderte.
    Ana Carolina stand mit vielen Menschen in Briefkontakt. Marie und Tante Joana schrieben ihr regelmäßig, Dona Alma hatte zwei Briefe in fast unleserlicher, arthritischer Altfrauenschrift geschickt, alte Freunde aus Rio teilten ihr die Neuigkeiten aus den Salons der Stadt mit. Sogar Post von Henrique hatte sie bekommen, vor etwa einem halben Jahr. Er teilte ihr mit, dass er eine Stelle als Ingenieur in den USA , in San Francisco, gefunden habe und dass er mit einer jungen Dame ausging, die Stella hieß und denselben sozialen Hintergrund besaß wie er. Ana Carolina las es voller Gleichmut. Henrique hatte sie in seinem Schreiben auch zum wiederholten Male um Verzeihung gebeten, doch Ana Carolina fragte sich, ob es nicht eher sie war, die ihn darum bitten sollte. Aber auch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie wünschte Henrique, dass er in Nordamerika glücklich wurde, an der Seite einer Frau, deren beste Eigenschaft anscheinend die war, dass sie nicht so reiche Eltern hatte wie sie.
    Es war also nicht besonders ungewöhnlich, dass eines Tages ein Brief aus Portugal kam. Als Absender war dort nur der Aufdruck eines Hotels zu sehen, keine handschriftliche Ergänzung. Sie öffnete ihn, ohne groß darüber nachzudenken. Irgendjemand aus ihrem Freundeskreis oder ihrer Familie mochte gerade dort sein und bei regnerischem Wetter zu Hotelbriefpapier und Stift gegriffen haben. Doch was sie dann las, kam so unerwartet, dass sie aus ihrer Gefühlsstarre erwachte und anfing zu weinen.
    Dona Alma war tot.
    Nicht dass das Ableben der betagten Frau so überraschend gewesen wäre. Aber die Verzweiflung, die aus dem Brief sprach, ging Ana Carolina zu Herzen, mehr noch als ihre eigene Trauer über den Verlust ihrer Großmutter. Geschrieben hatte ihn ein Mann, ein gewisser Don Leopoldo Ribeiro mit zwanzig weiteren Nachnamen, der sich als ein »sehr guter Freund« von Dona Alma vorstellte und Ana Carolina in

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