Unter den Sternen von Rio
saßen, meist nur spärlich bekleidet, vor ihren Schminkspiegeln und kümmerten sich nicht darum, ob ein Mann sie sah oder nicht. Bel lachte über irgendeinen Witz, den eine der Frauen gemacht hatte, obwohl sie ihn unmöglich verstanden haben konnte. Sein Französisch, das aus vielleicht zehn Wörtern bestand, war eindeutig noch besser als ihres. Aber egal, Hauptsache, sie amüsierte sich.
Kaum eine Viertelstunde später traten sie durch den Hintereingang des Theaters hinaus in die Kälte. Ihr Atem bildete kleine Wolken vor ihren Mündern, und auf den parkenden Autos, Hydranten und Geländern lag eine dünne weiße Eisschicht. Bels gute Laune war wie weggeblasen. »So ein Mist«, sagte sie, und Augusto war sich nicht sicher, ob sie das fragwürdige Etablissement und ihren Auftritt meinte oder aber das Wetter.
»Ich habe Hunger. Lass uns ein Lokal suchen, das noch geöffnet hat. Ich könnte eine ganze Kuh verdrücken. Und dazu gönnen wir uns eine Flasche Wein.«
»Aber Bel, wir haben …«
»Ist mir egal. Ich habe Hunger. Ich habe Durst. Ich habe hart geschuftet und habe es verdient, mir nach getaner Arbeit etwas zu gönnen. Sag jetzt kein Wort über unsere blöden Finanzen. Ich habe heute das Geld verdient, und ich will es auch ausgeben.«
So viel zu Sparsamkeit, Genügsamkeit und Enthaltsamkeit, dachte Augusto. Bel musste noch viel lernen.
Und er musste sich dringend einen Broterwerb suchen, der unabhängig von ihrer Bühnenkarriere war.
35
S ie wollte nicht hier sein. Sie wollte nicht zu Hause sein. Sie wollte an überhaupt keinem ihr bekannten Ort sein. Was sie wollte, war, eine andere Person mit einem anderen Leben in einem anderen Land zu sein. Ana Carolina wusste natürlich selber, wie absurd das war. Aber so fühlte sie sich nun einmal. Ihr Leben erschien ihr leer und sinnlos, und jede Alternative, die sich ihr zu ihrem jetzigen Alltag bot, tat es ebenfalls.
»Geh doch für ein Jahr ins Ausland, erlerne die englische oder von mir aus auch die japanische Sprache«, hatte ihr Vater vorgeschlagen. Müde hatte sie die Idee abgetan.
»Warum suchst du dir nicht ein kreatives Hobby?«, hatte ihre Mutter gefragt. »Das wird deinem Leben wieder mehr … Farbe verleihen.« Würde es das? Wenn sie sich der Porzellanmalerei oder Lochstickerei oder etwas ähnlich Idiotischem widmete, würde sie die Sinnlosigkeit ihres ganzen Daseins doch erst recht spüren.
Das Einzige, was sie überhaupt am Leben erhielt, war ihr Kind. Antónios Kind. Ein süßer Junge, gerade ein Jahr alt, bildhübsch, mit braunen Augen und aschblondem Haar. Ana Carolina wusste, dass sie vor Mutterglück hätte vergehen sollen, dass ihr vor Liebe zu dem Kind das Herz in der Brust schwellen sollte. Aber nicht einmal das war der Fall. Sie brachte dem Kind kaum mehr entgegen als Mutterinstinkte. Sie hatte es gestillt, sie fütterte und wickelte und beschützte es. Doch sie tat all das mit demselben Enthusiasmus, mit dem eine Straßenkatze ihre Jungen versorgte. Es war ein Automatismus, irgendeine jener praktischen Einrichtungen der Natur, die dafür sorgte, dass die Brut überlebte. Auch das machte ihr zu schaffen: dass sie nicht einmal dazu in der Lage war, ihr Kind so zu lieben, wie es der Kleine zweifellos verdient hätte.
Aber es ging nicht. Ana Carolina hatte versucht, mütterliche Liebe für ihren Sohn zu erzwingen. Mehr als alles wollte sie ja unbedingt wieder etwas anderes als diese kalte Umklammerung ihres Herzens spüren, wollte sie wieder atmen können, leben und lieben. Doch jedes Mal, wenn sie den kleinen Alfred anschaute, empfand sie für ihn so viel, wie eine Krankenschwester für einen Patienten empfinden mochte. Eine gewisse Zuneigung sowie die Verantwortung dafür, dass er in zwei Stunden gefüttert und am Abend gebadet wurde. Und die Verantwortung trug Ana Carolina nicht einmal allein.
»Was für ein süßer Fratz er doch ist!«, rief die Kinderfrau aus, die an sechs Tagen in der Woche kam, um ihr mit der Betreuung des Kleinen behilflich zu sein.
»Ja, sehr niedlich«, sagte Ana Carolina wenig überzeugend.
»Sehen Sie nur, er lächelt Sie an.« Die
babá
versuchte ihr Bestes, um Ana Carolina aus ihrer Lethargie zu reißen, aber vergeblich.
Sie lächelte halbherzig zurück und sah in dem kleinen Gesichtchen eigentlich nichts anderes als Hohn. Ja, er verhöhnte sie, ihr Alfredinho.
Sieh nur, ich bin nun das Einzige, was du von deinem António noch hast.
Seit Antónios Tod – seiner Ermordung – waren fast zwei Jahre
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