Unter den Sternen von Rio
schlichten, aber ergreifenden Worten mitteilte, dass sie die Haupterbin war.
Erbin? Sie war in dem Glauben aufgewachsen, dass Dona Alma auf Gedeih und Verderb von der Großzügigkeit ihrer Tochter, Vitória, abhängig gewesen sei. Was sollte es da zu erben geben, wenn das Haus samt Inhalt doch in Wahrheit gar nicht Dona Alma selbst gehört hatte?
Er habe, so schrieb Don Leopoldo, seiner Freundin über die Jahre viele Geschenke zukommen lassen, unter anderem ein Sommerhäuschen in Sintra, diverse Schmuckstücke von hohem Wert sowie viele kostbare Einrichtungsgegenstände und Kunstwerke. Diese, so ließ er Ana Carolina wissen, sollten nun in ihren Besitz übergehen. Er drückte sein herzliches Beileid aus und sein Bedauern, ihr die Nachricht vom Verscheiden Dona Almas nicht persönlich überbringen zu können. Er habe ihr das Leid ersparen wollen, aus der Feder eines Anwalts vom Tod ihrer Großmutter sowie von dem Erbe zu erfahren.
»Dona Alma hat Sie sehr geliebt, sehr verehrte Senhorita Ana Carolina, und wenn Sie sie so kannten, wie ich sie kannte, werden auch Sie sie geliebt haben. Ich bin sicher, dass ihr Andenken wie auch ihr Erbe von Ihnen in Ehren gehalten wird. Sollten Sie in absehbarer Zeit nach Portugal kommen, um am Grab Ihrer Großmutter ein Gebet für ihre große Seele zu sprechen, so würde ich mich glücklich schätzen, Ihre allerwerteste Bekanntschaft zu machen.«
Aha. Ihre Großmutter hatte also einen Liebhaber gehabt, einen vornehmen Mann von großem Reichtum, und das anscheinend über Jahrzehnte hinweg. Sie hatte es keiner Menschenseele erzählt, und wozu auch? Es hätten ihr doch nur alle hineingeredet, hätten ihr »Leben in Sünde« kritisiert. Ihre Tochter hätte die Verbindung nicht gebilligt, ihre Enkel hätten sie sogar abartig gefunden. Eine über achtzigjährige Frau, man stelle sich nur vor!
Ana Carolina spürte auf einmal, wie sich Wut unter ihre Trauer mischte. Wieso hatte man ihr nichts vom Tod Dona Almas gesagt? Ihre Mutter wusste es doch bestimmt längst. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie überhaupt eine Gefühlsregung empfand, die über eine milde Verärgerung, etwa wegen eines verkochten Essens, hinausging. Sofort griff sie zum Telefonhörer und rief in Rio an.
»Wann gedachtest du mich denn vom Tod meiner Großmutter in Kenntnis zu setzen?«, fragte sie ihre Mutter.
»Schatz, ich wollte dich schonen. Was hätte es schon geändert? Zu ihrer Beerdigung konnten wir ohnehin nicht mehr rechtzeitig erscheinen, und …«
»… ich hätte ihr weiterhin Briefe geschrieben und mich gewundert, warum sie nicht mehr antwortet.«
»Also, so lange hätte ich nun auch nicht gewartet, um es dir mitzuteilen. Woher weißt du es überhaupt?«
»Von ihrem Geliebten.« Ana Carolina hörte, wie am anderen Ende der Leitung geschluckt wurde. Gut so. Sie hatte ihre Mutter brüskieren wollen, und offenbar war es ihr auch gelungen.
»Ah«, war alles, was Dona Vitória dazu sagte. Sie wartete auf eine Erklärung, aber den Gefallen tat ihr Ana Carolina nicht.
»Nun, ich habe beschlossen, nach Europa zu reisen. Ich will ihr Grab besuchen.« Diesen Beschluss hatte sie erst in diesem Augenblick gefasst, aber kaum dass sie es ausgesprochen hatte, stellte sie fest, dass es stimmte. Sie wollte diese Reise machen. »Und«, fuhr sie maliziös fort, »ich will mein Erbe antreten.«
»Erbe?«
»Ja. Es gibt da ein paar Kleinigkeiten, die sie mir vermacht hat.«
»Ach so.« Vitória konnte sich dieses Erbe genau vorstellen. Es bestand wahrscheinlich aus unzähligen Gebetbüchern, Rosenkränzen und anderem religiösen Zubehör, außerdem aus Adels-Devotionalien wie zum Beispiel der getrockneten Rose aus dem Brautstrauß irgendeiner europäischen Prinzessin. »Es ist jedenfalls gut, dass du wieder Interesse am Leben erkennen lässt. Das beruhigt mich sehr, Schatz. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.«
»Ja, ich denke auch, dass es mir guttun wird, mal hier herauszukommen.«
»Was passiert mit Alfredinho?«
»Was soll denn mit ihm passieren?«
»Na, wo lässt du ihn so lange? Willst du ihn zu uns bringen? Wir würden uns sehr gut um …«
»Ich nehme ihn natürlich mit!«, rief Ana Carolina entrüstet aus. Dabei hatte die Vorstellung, ohne Kind durch Europa zu reisen, noch immer jung und frei von jeglichem Ballast, etwas sehr Verführerisches. Aber nein – das konnte sie dem armen Jungen nicht antun, dass sie ihn ihrer Mutter überließ, die ihn ja für »Carvalho-Pack« hielt.
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