Unter den Sternen von Rio
Warum sonst starrte sie immer so forschend in sein kleines pausbackiges Gesicht, beinahe feindselig, als könne sie in seinem Antlitz den Teufel höchstpersönlich ausmachen? Nein, Alfredinho kam mit ihr. Und die Kinderfrau ebenfalls.
Plötzlich hatte es Ana Carolina eilig, das Gespräch zu beenden. Sie brannte darauf, ihre Reise vorzubereiten. Ein winziger Funke an Unternehmungslust hatte wohl noch in ihr geglimmt, und ein einziger Lufthauch – in diesem Fall der Brief des Senhor Ribeiro – hatte genügt, um ihn zu einem Feuer zu entfachen. Sie würde mit Kind und Personal und einem anscheinend üppigen Erbe eine Reise nach ihrem Geschmack antreten können. Sie würde sich als Witwe ausgeben – wer wollte schon das Gegenteil beweisen? – und würde endlich, zum ersten Mal in ihrem Leben, selbst bestimmen können, was sie tat, wo und mit wem. Dank des Erbes wäre sie so unabhängig, wie man nur sein konnte. Das war doch etwas ganz anderes als die Reise einer wohlbehüteten Tochter, die von einer alten Tante zur nächsten weitergereicht wurde, damit ihre Tugend keinen Schaden nahm.
»Ana Carolina? Bist du noch dran?«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter.
»Ja,
mãe,
ich bin noch dran. Aber ich muss jetzt einhängen, ich glaube, Alfredinho hat sich weh getan. Adeus!« Damit legte sie auf.
Sogar ihr Sohn, dachte sie, konnte mehr sein als nur ein Hemmschuh. Manchmal war er sogar recht nützlich.
Sie sah zu dem Kind, das friedlich auf einer Spieldecke auf dem Boden saß und mit seinen Stofftieren spielte. Irgendwie war er ja ganz niedlich. Da, hatte er ihr gerade zugelächelt?
Ana Carolina lächelte zurück, verhalten erst, dann immer breiter. Und dann bahnte sich, für sie selber ebenso überraschend wie für die Hausangestellten, die Zeugen dieses unerhörten Vorgangs wurden, ein helles, lautes Lachen seinen Weg.
36
V itória war froh, dass Ana Carolina nach Europa gehen wollte. Je weniger sie in Rio war, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Wahrheit herausfand. Mit ein wenig Glück bliebe sie für immer dort und fand sogar einen Ehemann, der sie trotz des unehelichen Kindes nehmen würde. Es wäre sicher keine glänzende Partie, vielleicht ein alternder Witwer, aber das war immer noch besser für sie, als für den Rest des Lebens allein zu bleiben. Eine unverheiratete Frau stand im Ansehen der Leute ja fast noch unter einer Frau, die zwar ein uneheliches Kind hatte, dafür aber auch einen Mann, der dieses Kind akzeptiert, vielleicht sogar adoptiert hatte.
»Du hast es ihr auch jetzt nicht gesagt, oder?«, hörte sie Leóns Stimme direkt hinter sich. Himmel! Dieser Mann konnte sich noch immer lautlos anschleichen wie eine Raubkatze. Hörte das denn nie auf?
»Was soll ich ihr gesagt haben?«
»Dass er nicht tot ist.«
»Sie hat nicht gefragt.«
»Natürlich nicht. Sie spricht nicht über das Thema – genauso wenig wie wir es ihr gegenüber anschneiden.«
»Wirklich, León, ich verstehe nicht, wieso du dich immerzu als Moralapostel aufspielst und mir die Schuld für alles gibst, was du selber versäumt hast.«
»Ich war es ja nicht, der ihr gesagt hat, António sei tot. Das warst du, meine schöne Sinhazinha.«
»Ja, aber zu dem Zeitpunkt glaubte ich es auch. Der Arzt hatte ihn bereits für tot erklärt, erinnerst du dich? Ich habe sie also nicht absichtlich belogen.«
»Sie findet es ohnehin irgendwann heraus. Und dann wird sie dich hassen.«
»Sie hasst mich sowieso schon. Sie glaubt, ich wolle ihr aus schierer Boshaftigkeit ihr Leben vermiesen.«
»Ist es denn nicht so?«
»Du bist widerlich, León. Wie kannst du so etwas glauben? Ich will nur ihr Bestes, so wie du auch. Im Übrigen hast du eines vergessen: Sie wird auch dich hassen.«
»Wahrscheinlich. Daher habe ich beschlossen, es ihr zu sagen. Soll sie sich doch selber einen Reim darauf machen, dass er fortgegangen ist, dass er sie im Stich gelassen hat, dass er sie mit dem Kind sitzengelassen hat. Wir können nicht auf ewig Kummer von ihr fernhalten. Und ich glaube, das Wissen, dass er noch lebt, wäre ihr trotz allem ein großer Trost.«
»Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass wir diesen Kerl mit allen Mitteln von ihr fernhalten. Dass wir Ana Carolina die Möglichkeit geben, ihn zu vergessen und eines Tages einen … anständigen Mann kennenzulernen. Was hat dich jetzt bewogen, deine Meinung zu ändern?«
Ja, das fragte León sich auch. War es plötzlich wiederentdeckte Wahrheitsliebe? Oder das Wissen,
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