Unter den Sternen von Rio
ihre Großmutter sich zeitlebens einer stählernen Gesundheit erfreut hatte.
»Anscheinend. Ich kenne die alten Besitzer ja nicht mehr. Wenn Sie wollen, kann ich aber meine Oma mal fragen.«
»Lade sie doch einmal hierher ein. Vielleicht würde sie gern sehen, was aus der alten Fazenda geworden ist. Und vielleicht hat sie Lust, ein wenig mit mir zu plaudern und mir von früher zu erzählen.«
Luisa nickte enthusiastisch. Dass ihre Oma andauernd hier war, nämlich immer dann, wenn die Herrschaft es nicht war, würde sie natürlich für sich behalten. Aber sie wusste, dass die alte Dame hocherfreut wäre, mit der jungen Dame des Hauses an einem Tisch zu sitzen und Kaffee aus Porzellantassen zu trinken wie eine waschechte weiße Senhora. Dazu würde sie Geschichten aus der glorreichen Vergangenheit der Fazenda zum Besten geben, die wahrscheinlich von A bis Z erlogen, aber schön zu erzählen waren. Ihre Großmutter fabulierte für ihr Leben gern.
Als Ana Carolinas Bauch an Umfang zunahm, als die Ausritte beschwerlicher wurden und die Bäder im See ihr nicht mehr so ratsam erschienen, kam eine sechste Angestellte hinzu, nämlich die
babá,
die Kinderfrau, die sich als Krankenschwester auch vor der Niederkunft schon nützlich machen konnte. Sie massierte Ana Carolina die Füße und den Nacken, ließ ihr Bäder mit entspannenden Essenzen ein und cremte ihren gewölbten Bauch mit speziellen Salben, die Dehnungsstreifen verhindern sollten. Vor allem passte sie auf, ob die Schwangerschaft normal verlief und die werdende Mutter brav war. Sie riet ihr zu gemäßigter Bewegung und ausgewogenem Essen, das die Köchin nach ihren Anweisungen zubereitete. Alles in allem war sie mehr Ana Carolinas Kinderfrau als die des noch ungeborenen Babys.
Die Tage zogen in beruhigender Eintönigkeit dahin, ohne Höhepunkte und ohne Tiefschläge. Die völlige Abwesenheit von Aufregung jeder Art kam Ana Carolina sehr gelegen. Ihre eigene passive Duldsamkeit fiel da nicht weiter auf. Sie las viel, doch auch das tat sie ohne große Begeisterung. Sie las alles, was man ihr mitbrachte, seien es Lyrikbändchen oder zeitgenössische Romane, Rezeptsammlungen oder Modemagazine. Nur Zeitungen las sie nicht. Die garstige große Welt sollte draußen bleiben und nicht ihr heimeliges Reich friedlicher Abgeschiedenheit beschmutzen.
Nachdem Luisas Großmutter eines Tages wirklich zu Besuch gekommen war, mochte Ana Carolina auch keine weiteren Gäste mehr empfangen.
»Sinha Vita!«, hatte die Alte bei Ana Carolinas Anblick ausgerufen. Es hatte eine Weile gedauert, bis die ehemalige Sklavin begriff, dass sie die Tochter der einstigen Sinhazinha vor sich hatte.
Die Alte erzählte einen Haufen Unsinn, wie etwa, dass Dona Alma immer sehr kränkelnd und die Sinhazinha ein ausgelassenes Mädchen gewesen war. Ana Carolina glaubte keine Silbe davon. Sie berichtete ihrerseits, dass ihre Mutter und ihre Großmutter wohlauf seien, was die Alte ihr nun nicht so recht abnahm.
»Dona Alma lebt noch? In Portugal? Aber … sie muss steinalt sein.«
»Ja, sie ist fast neunzig. Es geht ihr sehr gut. Sie war sogar vor nicht allzu langer Zeit in Rio.« Dass sie zu ihrer Hochzeit gekommen war, die ohne Trauung endete, verschwieg sie der alten Dona Lisete.
Das, so befand Dona Lisete, konnte ja nur frei erfunden sein. Sie hatte dank langjähriger Erfahrung im Erfinden guter Anekdoten ein untrügliches Gespür für wahre und für unwahre Geschichten, und das, was die junge Sinhazinha ihr da auftischte, musste ein Lügengespinst sein.
Im Februar 1927 brachte Ana Carolina auf Boavista ihren Sohn zur Welt. Es war eine leichte Geburt, die völlig reibungslos verlief und insgesamt nur drei Stunden dauerte. Das Baby war still und freundlich und schlief die meiste Zeit. So wie seine Mutter. Ana Carolina fühlte sich anfangs dauernd erschöpft, wovon, das wusste keiner zu sagen. Vielleicht von der Enttäuschung. Von ihrem Sohn, dem einzigen Andenken an ihre große Liebe, hatte sie sich erwartet, dass er sie wenigstens an António erinnerte. Aber das kleine runde Gesichtchen sagte ihr gar nichts. Es hätte auch ein fremdes Kind sein können, das sie da an ihrer Brust nährte.
Ihre Eltern waren erstaunlich gelassen angesichts der Geburt dieses Kindes, das andere Leute wohl »Bankert« genannt hätten. Weder legten sie ihr nahe, es zur Adoption freizugeben, noch beklagten sie ihr Schicksal, eine so missratene Tochter zu haben. Ana Carolina vermutete, dass ihren Eltern vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher