Unter den Sternen von Rio
vergangen, und noch immer fühlte Ana Carolina sich vor Schock wie gelähmt. An dem Tag, an dem sie aus ihrer Ohnmacht erwachte und erfuhr, dass António der Schussverletzung erlegen war, hatte sich, so kam es ihr vor, irgendein Rädchen in ihrem Kopf verhakt und sich bis heute nicht gelöst. Vielleicht lag es an ihrer eigenen Schädelverletzung, die sie sich beim Sturz gegen die Kommode zugezogen hatte. Sie hatte seitdem häufig starke Kopfschmerzen, als wüte da etwas unter ihrer Schädeldecke, das sich nicht beruhigen ließ.
Kaum war Ana Carolina von ihrer Kopfverletzung genesen, hatte sie festgestellt, dass sie in anderen Umständen war.
Herzlichen Glückwunsch,
hatte sie gedacht: der Kindsvater tot, der Bräutigam über alle Berge, der Bruder in Haft, der Rest der Familie dem Gespött der Leute ausgesetzt und sie selber schwanger mit einem unehelichen Kind.
Bravo.
Sie beschloss, dass es das Beste für sie sei, eine Weile aus Rio zu verschwinden, das heißt, eigentlich beschloss es Dona Vitória für sie. Sie selbst war ja bisher zu keiner eigenen Entscheidung fähig. Also ging Ana Carolina nach Boavista, der alten Kaffee-Fazenda der Familie, um dort ihr Kind auszutragen.
Boavista war längst keine Plantage mehr. Der Kaffee wurde heutzutage weiter im Hinterland angebaut, in São Paulo vor allem, wo die Flächen größer waren und zum Teil Maschinen eingesetzt werden konnten und wo man rechtzeitig Arbeitskräfte unter den Einwanderern rekrutiert hatte. Im Vale do Paraíba war niemand auf diese Idee gekommen. Der Kaffee hatte in der hügeligen Landschaft nur von Hand geerntet werden können, und seit dem Ende der Sklaverei rechnete sich das nicht mehr. Aber das alte Herrenhaus stand noch. Dank Dona Vitórias Weitsicht und Geld war Boavista in ihrem Besitz geblieben, und sie hatte es in all den Jahrzehnten gehegt und gepflegt. Heute war es ein herrlicher, ruhiger und komfortabler Landsitz, umgeben von ausgedehnten Ländereien, mit eigenen Pferdekoppeln und kleinen Wäldern, durchzogen vom klaren Paraíba-Fluss und mit mehreren Seen, in denen man baden konnte. In der hügeligen Landschaft um die Orte Valença und Vassouras war es seit dem abrupten Ende der Ära der Kaffeebarone einsam und still geworden – genau das Richtige für Großstädter, die dem Trubel eine Weile entfliehen wollten.
Oder für werdende Mütter, die sich der Welt nicht stellen mochten.
Ana Carolina konnte stundenlang durch die Wiesen streifen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Sie konnte nach Belieben nackt baden, ohne die Gefahr, von Fremden beobachtet zu werden. Sie machte Ausritte durch die Wälder oder saß einfach auf der Veranda und atmete tief den würzigen Duft der Natur ein. Gesellschaft hatte sie wenig. Gelegentlich kamen ihre Eltern oder ihr Bruder Pedro zu Besuch, aber meistens war Ana Carolina allein mit den insgesamt fünf Angestellten. Vier von ihnen bewohnten die ehemalige
senzala,
einen scheunengroßen Raum, der einst Sklaven beherbergt hatte. Inzwischen waren darin sehr hübsche Dienstbotenquartiere eingerichtet worden.
Es gab zwei Männer, die für die Pferde und die Ländereien zuständig waren, sowie zwei Frauen, die sich um die Pflege des Herrenhauses kümmerten. Es gab außerdem eine Köchin, die den Besitzern bei ihren wenigen Besuchen auf Abruf zur Verfügung gestanden hatte und die nun täglich kam, um Ana Carolina zu bekochen. Sie alle waren von dunkler Hautfarbe, und alle waren in dieser Gegend groß geworden. Zwei von ihnen waren Nachfahren ehemaliger Sklaven, die auf Boavista gearbeitet hatten, und wussten viel mehr darüber als Ana Carolina. Es beschämte sie ein wenig, wenn die junge Luisa, eines der Hausmädchen, ihr Anekdoten erzählte, die sie von ihrer Großmutter gehört hatte und die sich in diesem Haus zugetragen hatten. Dem Haus, das heute nicht Luisas Familie gehörte, obwohl doch auch sie hier gelebt und gearbeitet hatte, sondern Ana Carolinas Familie.
»Meine
avó
sagt immer, der Sinhô von Boavista wär der Beste im ganzen Vale gewesen, er hätte nie einem Neger ein Haar gekrümmt.«
»Wie schön«, sagte Ana Carolina träge, dachte aber, dass das tatsächlich besser war, als zu erfahren, dass ihr Großvater ein Schinder gewesen war.
»Und die Sinhá Dona Alma, die ist die schönste Frau im ganzen Land gewesen, also früher, wie sie noch nicht so krank war.«
»Sie war krank?«, fragte Ana Carolina nach, nun doch neugierig geworden. Sie hätte ihre Hand dafür ins Feuer gelegt, dass
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