Unter den Sternen von Rio
dass selbst gutgemeinte Lügen auf Dauer nur Schaden anrichteten? Er hatte Vitas Idee anfangs bestechend gefunden. Sie würden ihre Tochter in dem Glauben lassen, dieser António sei tot, und dadurch noch größeres Leid von ihr fernhalten. Die Wahrheit nämlich war hässlich und verletzend: Der Mann hatte sich, kaum dass er von seiner Schussverletzung genesen war und von Ana Carolinas Schwangerschaft erfahren hatte, aus dem Staub gemacht. Keinen Funken Anstand im Leib, dachte León verbittert. Der Kerl hätte Ana Carolina heiraten müssen, hätte ihrem Kind ein Vater sein müssen. Außerdem hätte eine Hochzeit zwischen den beiden alle vorherigen Ereignisse, die so viel Staub aufgewirbelt hatten, in ein romantisches Licht gerückt. Eine geplatzte Hochzeit gewann doch nachträglich an Glanz, wenn sich herausstellte, dass die Braut von dem Mann entführt worden war, den sie nicht hatte haben dürfen, in dem Fall dem Sohn des ärgsten Feindes ihrer Mutter. Romeo und Julia auf Brasilianisch und mit gutem Ausgang, sozusagen. Ein Sieg für die Liebe. Aber nein: Der Schuft hatte es vorgezogen, sich zu verdrücken.
»Ich merke schon, du willst mir nicht antworten. Im Grunde ist es ja auch gleich«, holte ihn Vitas Stimme aus seinen Gedanken. »Logisch nachvollziehbare Handlungen waren ja noch nie deine Stärke.«
»Ach, aber deine? Ich fürchte, meine kleine Sinhazinha, dass deine Selbsteinschätzung in einigen Punkten, nun, nicht ganz der Realität entspricht. Du willst für alle nur das Beste. Du glaubst, alle vor Schaden zu bewahren. Du bestimmst, was für unsere erwachsenen Kinder oder für deine alte Mutter, der Herr hab sie selig, das Richtige ist beziehungsweise war. Du bist die Einzige, die alles weiß und alles kann und die viel klüger ist als der Rest von uns zusammen.«
»So ist es aber doch auch.«
»So ist es eben nicht, Vita. Sieh doch, was du mit all deinen Intrigen und selbstherrlichen Aktionen angerichtet hast. Deine Mutter wollte mit dir nichts mehr zu schaffen haben, dein Sohn wäre dank deiner perfiden Andeutungen beinahe zum Mörder geworden, deine Tochter hockt einsam auf dem Land und schließt sich selbst aus dem Leben aus. Ist es das, was du wolltest?«
»Du begreifst überhaupt nichts.«
»Dann erkläre es mir, Vita. Ich würde es nur allzu gern begreifen.«
»Das hat gar keinen Sinn. Dein Gehirn ist für bestimmte Denkweisen nicht hinreichend ausgestattet.«
León ließ sich von derartigen Beleidigungen schon lange nicht mehr beeindrucken. Er ignorierte ihren Einwurf und fragte weiter: »Was zum Beispiel hat es mit deinem Hass auf die Carvalhos auf sich? Hättest du Ana Carolina nicht ihr Leben lang eingeimpft, dass diese Leute nichts taugen, dann hätte sie vielleicht rechtzeitig die Verlobung mit Henrique gelöst und hätte diesen António zum Mann genommen.«
»Merkst du eigentlich nicht, was du für einen Unsinn redest? Das Carvalho-Pack ist und bleibt Pack. Sieh dir doch an, was der junge António gemacht hat. Wir können froh sein, dass sie den Mistkerl nicht zum Mann genommen hat. Er taugt nichts. Er hat schon vorher ein Mädchen in Schwierigkeiten gebracht, erinnerst du dich an diese abstruse Geschichte? Da kann die Familie es noch so sehr abstreiten. Dann ist er mit seinem Flugzeug abgestürzt, was doch beweist, dass er nur ein dümmlicher Draufgänger ist. Genau wie sein Vater. Wie du siehst, wusste ich es tatsächlich besser. Wie immer.«
»Deine Rechthaberei,
Dona Vitória,
ist unerträglich.«
»Nicht so unerträglich wie dein permanent erhobener Zeigefinger,
Seu León.
«
Er tat so, als dächte er intensiv über das nach, was sie ihm vorwarf. Dann erklärte er: »Ich rufe Ana Carolina jetzt an und erzähle ihr die Wahrheit.«
Vitória sah ihren Mann in ihrer unnachahmlich arroganten Weise an. »Tu, was du nicht lassen kannst, León. Aber schieb hinterher bitte nicht wieder mir die Schuld in die Schuhe, wenn deine unklugen Offenbarungen zu noch mehr Unglück führen.« Damit drehte Vitória sich um und ging mit federnden Schritten davon.
León sah ihr nach und beneidete sie ein bisschen. Unberührt von Selbstzweifeln jeglicher Art lebte es sich wahrscheinlich leichter. Vermutlich hatte sie auch deshalb das Aussehen und den eleganten Gang einer sehr viel jüngeren Frau. Er fand sie noch genauso hinreißend wie vor vierzig Jahren, und paradoxerweise liebte er sie umso mehr, je drastischer ihre Charaktereigenschaften, die guten wie die schlechten, zutage traten. Dennoch
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