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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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musste er jetzt endlich das tun, was er für richtig hielt und was er schon längst hätte tun sollen. Mochten alle anderen nach Vitas Pfeife tanzen – er tat es nicht. Auch wenn er sich manchmal als ihr Sklave bezeichnete, war er wahrscheinlich der einzige Mensch weit und breit, der genau das nicht war.
    Er nahm den Hörer ab und wählte, als das Hausmädchen hereinplatzte und einen Besucher ankündigte. Er legte wieder auf und verschob den schwierigen Anruf auf später.
     
    Vitória tat, was sie immer tat, wenn sie sich ablenken wollte: Sie setzte sich an die Arbeit. Sie studierte die alarmierenden Zahlen des brasilianischen Kaffeemarktes, der sie nach wie vor faszinierte. Immerhin war sie inmitten weitläufiger Kaffeefelder aufgewachsen, war die Tochter eines Kaffeebarons und hatte ihre ganze Kindheit und halbe Jugend hindurch von dem Reichtum profitiert, den das »schwarze Gold« ihrer Familie eingebracht hatte. Heute ließ sich mit Kaffee kein Geld mehr verdienen, das galt höchstens für die Röstereien in Übersee, nicht aber für die Anbauländer. Brasilien produzierte nicht nur mehr, als die Weltmärkte verlangten, sondern es ruinierte mit seiner künstlichen Verknappung des Rohstoffs auch seinen Ruf als »gutes« Kaffee-Exportland. Die Überproduktion wurde eingelagert und kam dann erst sehr viel später, manchmal Jahre später, auf den Markt, oft genug versetzt mit Steinchen, Schmutz und allen möglichen Dingen, die in einem Kaffeesack nichts verloren hatten, die aber das Gewicht erhöhten. Die importierenden Länder sahen sich verständlicherweise nach zuverlässigeren Lieferanten um, so dass die fast 20  Millionen Sack des ohnehin schon viel zu billigen Kaffees, die Brasilien im letzten Jahr geerntet hatte – und von denen es nur rund 15  Millionen hatte verkaufen können –, erst recht an Wert verloren.
    Wäre nicht die anhaltend gute Stimmung an den Börsen gewesen, die den Industrieländern Wohlstand bescherten und den Leuten den Kaffeegenuss überhaupt erst erlaubten – es sähe schlimm aus mit Brasilien. Sollten die Aktienkurse einmal abstürzen, dann würde Brasilien mit seiner kaffeeorientierten Wirtschaft gleich mit in den Abgrund gezogen werden.
    Aber zum Glück sah es auf den Aktienmärkten rosig aus. Der Dow Jones stieg und stieg und mit ihm die amerikanischen Wertpapiere, die Vitória besaß, etwa von General Electric und von der U.S. Rubber Company. Auch ihre brasilianischen Aktien standen gut. Dennoch war ihr die anhaltende Hausse suspekt. Vielleicht sollte sie ihre Vermögenswerte lieber umschichten? Mehr Rohstoffe und Immobilien, weniger Aktien? Ach was, sie würde ein wenig länger am Ball bleiben, verkaufen konnte sie immer noch, wenn sich größere Kursverluste abzeichnen sollten.
    Sie blätterte in verschiedenen Zeitungen und las sich alles, was sich auch nur entfernt nach Wirtschaftsnachrichten anhörte, genau durch. Ihr mathematischer Verstand verarbeitete die kleinste Information sofort zu einer Idee, wie sie daraus den größten Profit schlagen könnte. Eine Hafeneinfahrt wurde vertieft? Da wären Anteile an Reedereien nicht schlecht, die Ozeanriesen bauten. Ein Geschäft in der Innenstadt meldete Konkurs an? Möglicherweise eine gute Gelegenheit, ein zweifellos mit zu hohen Hypotheken belastetes Ladengeschäft in bester Lauflage zu erwerben. Eine Seuche breitete sich unter den Rindern im Süden des Landes aus? Gut für sie, die Preise für Rindfleisch würden steigen.
    Nachdem sie die Wirtschaftsteile gelesen hatte, widmete sie sich lustlos dem Rest einer lokalen Zeitung. Die Todesanzeigen waren nicht uninteressant, seit es immer öfter Bekannte von ihr traf. Auch die Artikel im Teil »Vermischtes« las sie gelegentlich, Mord und Totschlag waren doch die beste Medizin, um sich in seinem eigenen Leben wohl zu fühlen. Dem Feuilleton widmete sie wenig Aufmerksamkeit, den Sportteil las sie gar nicht. Irgendwann erwischte sie sich dabei, dass sie die Kleinanzeigen las, und legte die Zeitung verärgert beiseite. Wem wollte sie etwas vormachen? Sie las das Blatt doch nur, um nicht an León, diesen Anruf und ihre arme Tochter zu denken.
    Wie konnte León, der sich doch für einen mitfühlenden Mann hielt, so unsensibel sein? Just zu diesem Zeitpunkt, wo Ana Carolina aus ihrer Lethargie erwachte und wieder Pläne für die Zukunft schmiedete, wollte er ihr das Herz ein weiteres Mal brechen. Musste er ausgerechnet jetzt sein Gewissen erleichtern? Und wäre das nicht der Gipfel

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