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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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an Egoismus? Er redete sich alles von der Seele, um wieder ruhig schlafen zu können, und ihrer Tochter bereitete er damit schlaflose Nächte, in denen sie über ihr sagenhaftes Pech mit den Männern nachgrübeln konnte. Bei alldem hielt León sich selbst auch noch für den Guten, während sie, Vitória, die Böse war. So eine bodenlose Ungerechtigkeit!
    Sie hielt sich gewiss nicht für unfehlbar. Aber immerhin hatte sie den Mut und die Stärke, unbequeme Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie sie selber in einem schlechten Licht dastehen ließen. Wenn das Wohl ihrer Liebsten davon abhing, wollte sie sich gern von allen als Hexe beschimpfen lassen. Außer von León. Wenigstens er sollte doch klug genug sein, sie zu durchschauen.
    Ob sie vielleicht doch mehr in Papiere der Luftfahrtindustrie anlegen sollte? Himmel, das passierte ihr immer öfter in letzter Zeit! Sie konnte sich kaum länger als zwei Minuten auf irgendetwas konzentrieren, das nicht mit Geldverdienen zu tun hatte, bevor ihre Gedanken unweigerlich wieder zu möglichen Investitionen und zukunftsträchtigen Branchen abdrifteten. Diesmal wusste Vitória wenigstens, woher der plötzliche Gedankensprung gekommen war. Ana Carolina – António – Flugzeuge. Sie selber würde keinen Fuß in so ein Ding setzen, aber es schien ja ein Geschäft mit Zukunft zu sein.
    Im Jahr zuvor war die VARIG , kurz für Viação Aérea Rio Grandense, gegründet worden, die erste brasilianische Fluggesellschaft, und zwar von einem Deutschen, der auch deutsche Dorniers einsetzte. Im selben Jahr war der US -Amerikaner Charles Lindbergh zu Ruhm gelangt, nachdem ihm die erste Alleinüberquerung des Atlantiks von New York nach Paris ohne Zwischenlandung geglückt war. Seitdem war die Begeisterung der Leute für diese widernatürliche Art der Fortbewegung ins Grenzenlose gewachsen. Und nachdem, ebenfalls im vergangenen Jahr, der italienische Luxusdampfer »Principessa Malfada« vor der brasilianischen Küste verunglückt war und mehr als 300 Menschen gestorben waren, musste man sich ja wirklich fragen, ob das Fliegen nicht tatsächlich gewisse Vorteile hatte. Reisen mit der Eisenbahn, dem Automobil oder mit dem Schiff waren ja, wie man sah, nicht ungefährlich, nur dauerten sie wesentlich länger. Ja, der Fliegerei gehörte die Zukunft. Vitória beschloss, sich gleich morgen kundig zu machen, welche Wertpapiere es gab, wie hoch die Dividenden waren und welche Renditen sie versprachen. Dieser Plan hob ihre Laune merklich.
    Vielleicht konnte sie heute Abend mit León ins Kino gehen. Es wurden, wie sie aus ihrer oberflächlichen Zeitungslektüre wusste, zwei Filme gegeben, die sie sich gerne ansehen würde. Einer davon war eine Komödie mit Buster Keaton, der andere war ein Tanzfilm, bei dem junge Tänzerinnen in langen Reihen ihre nackten Beine schwingen würden, und zwar in absoluter Synchronizität. Schade nur, dass man dazu nicht die Originalmusik hörte, sondern das manchmal unpassende Geklimper des Kino-Pianisten. Aber bald wäre es vorbei damit, denn neuerdings gab es ja sogar Tonfilm, unfassbar! In Rio war zwar noch kein Kino mit den entsprechenden technischen Neuerungen ausgestattet, aber das war sicher nur eine Frage der Zeit. Auch Farbfilme sollte es bereits geben, hatte sie gelesen. Herrlich! Bald würden sie Filme in Farbe und mit Ton sehen können, und das stellte sie sich fast so vor, als wäre man selber mitten im Geschehen. Das war doch einmal eine Aussicht, für die es sich lohnte, alt zu werden.
    »León, wollen wir heute Abend ins Capitólio gehen?«, platzte sie in den Salon, bevor sie bemerkte, dass er dort nicht allein war. »Oh, Entschuldigung, ich wollte nicht stören.«
    »Nein, nein, du störst nicht, komm nur herein«, forderte León sie auf. »Darf ich vorstellen: Senhor Vargas – Dona Vitória.«
    »Sehr erfreut«, sagten beide gleichzeitig, was ihnen ein Schmunzeln entlockte.
    »Senhor Vargas«, erklärte León, »ist Redakteur beim ›Jornal do Brasil‹ und möchte, dass ich eine Kolumne für sein Blatt schreibe.«
    »Wie schön«, sagte Vitória mit verkrampftem Lächeln. Seit dieser verfluchten geplatzten Hochzeit hatte sie ein gestörtes Verhältnis zur Presse. Damals waren die Schreiberlinge über sie hergefallen wie eine Meute ausgehungerter Hunde. Was hatte nicht alles in den Zeitungen gestanden über sie! Rund 99  Prozent davon war frei erfunden und das meiste so eindeutig von Sensationsgier geprägt gewesen, dass kein normaler Mensch es

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