Unter den Sternen von Rio
hätte glauben dürfen. Aber wie das so war: Wenn etwas in der Zeitung gestanden hatte, hielten es die Leute für wahr. Und je öfter eine Lüge wiederholt wurde, desto wahrer wurde sie.
»Eine politische Kolumne«, präzisierte León, dem der Gesichtsausdruck seiner Frau keineswegs entgangen war.
Am liebsten hätte sie den Redakteur gefragt, was genau sich sein Blatt denn von einem alten Mann erhoffte, der vor vierzig Jahren einmal ein Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei gewesen war, der aber längst seinen Biss verloren und schon vor zehn Jahren die politische Bühne der Stadt verlassen hatte. Gab es keine jüngeren Leute, die man zu Wort kommen lassen konnte? Aber sie verkniff sich natürlich eine entsprechende Äußerung. Vor Fremden, erst recht vor Angehörigen der Presse, würde sie nie etwas anderes als Harmonie zur Schau stellen.
»Wie interessant«, flötete sie. »Dann lasse ich die Herren mal allein, von derlei Dingen verstehe ich ja nicht viel. Aber ich lasse Ihnen einen Kaffee bringen.«
Der Redakteur schaute Vitória ratlos hinterher. Das sollte Dona Vitória, die Fürchterliche, gewesen sein? Was für eine Enttäuschung. Er hatte sich einen Drachen vorgestellt, eine Furie, ein Mannweib, das sich in alle Belange ihres Gemahls einmischte. Dass sie eine freundliche ältere Dame war, ein graziles Geschöpf von einnehmendem Wesen, hätte er nicht vermutet.
»Oh, und León«, drehte sich Vitória an der Tür noch einmal um. »Vergiss bitte diesen Anruf nicht.«
Zuckersüß, ging es León durch den Kopf, und dabei so verteufelt hinterhältig. Sie wusste ganz genau, wo sie ihn kriegen konnte. Dass er den Anruf noch nicht getätigt hatte, war ihr nicht entgangen. Indem sie ihn daran erinnerte, hatte sie ihm einen unmissverständlichen Hinweis darauf gegeben, was sie von der Idee mit der Kolumne hielt, nämlich gar nichts. Sie hätte ebenso gut sagen können: León, wie viele blödsinnige Vorhaben wirst du dir heute noch ausdenken?
Die Lust auf eine eigene Kolumne hatte sie ihm gründlich vergällt. Die auf einen gemeinsamen Kinobesuch auch.
37
W as für eine Ironie, dass er diese Reise nun auf dem Seeweg antrat, er, der er mit allen Mitteln die Beförderung durch die Luft vorantrieb. Aber die Überquerung des Südatlantiks in einem Flugzeug war noch immer eine große Herausforderung und mit enormen Mühen und Kosten verbunden, während die Passage per Schiff alltäglich geworden war. Jeden Tag verließen unzählige Schiffe Brasilien mit Ziel auf einen der großen europäischen Häfen. Wäre keine Kabine auf diesem Passagierdampfer frei gewesen, hätte er sich ohne Probleme in einer Eignerkabine auf einem der Handelsschiffe einquartieren können, die tonnenweise Kaffee von Santos nach Europa schafften. Das Essen war auf den Frachtern wesentlich schlechter als auf den Passagierdampfern, und die Kabinen waren weniger luxuriös ausgestattet, aber die Fahrt selber war die gleiche.
Sie war lang – und vor allem langweilig. Sobald man sich vom brasilianischen Festland entfernte und einen Nordostkurs einschlug, etwa auf der Höhe von Recife, sah man tagelang nichts mehr außer Wasser. Nach Fernando de Noronha kam man an keiner Insel mehr vorbei, es gab bis zu den Kapverden vor der Küste Afrikas überhaupt nichts, was das Auge hätte ablenken können von diesem endlosen, unbarmherzigen Graublau des Atlantiks. Nicht einmal Vögel umschwirrten das Schiff, wie es sonst, in der Nähe von Land, immer der Fall war. Nichts. Keine Insekten. Keine Möwen. Kein Land. Kein anderes Schiff in Sicht. Es war doch merkwürdig, fand António, dass man auf dieser vielbefahrenen Route nichts von dem angeblich regen Schiffsverkehr mitbekam. Das hätte doch wenigstens einmal für ein wenig Abwechslung gesorgt. Man hätte winken können, die Damen hätten die Reisenden oder die Matrosen durchs Fernglas bestaunen und die Herren hätten über die Bauweise des anderen Schiffs fachsimpeln können. Er selber hätte mit dem mitreisenden Herrn Generaldirektor der Brückenbaugesellschaft des Staates São Paulo über die Vor- und Nachteile verschiedener Antriebssysteme und Verbrennungsmotoren reden können, denn der Mann war Ingenieur von Beruf mit einem Faible für Automobile, und er verpasste keine Gelegenheit, es allen Mitreisenden unter die Nase zu reiben – heißa, das wäre doch wirklich mal ein Spaß gewesen!
Halt!, rief António sich zur Ordnung – er durfte nicht zynisch werden. Der arme Generaldirektor konnte ja
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