Unter den Sternen von Rio
an der Somme auch Luftangriffe geflogen worden waren, aber die Nennung des Schauplatzes allein reichte, um den Mann schaudern zu lassen. Mehr als eine Million Tote. Grauenhafte Verluste auf allen Seiten. Schlimmste Verstümmelungen. Die völlige Sinnlosigkeit dieses Großen Krieges. All das kam den Leuten in den Kopf, wenn sie »Somme« hörten. António fand seine spontane Antwort also durchaus passend: Er war über Caros Tod mindestens genauso entsetzt, wie es dieser Militär angesichts der Schlacht an der Somme war.
»Schlimme Sache«, sagte der Mann.
»Ja.«
»Aber Sie sind ja noch jung. Mit der Zeit werden Sie lernen zu vergessen.«
Jetzt ein Schlag in die Magengrube des Kerls, dann noch ein Tritt in die Weichteile. Oder – warum nicht? – ihn gleich über Bord werfen. António ging ohne ein weiteres Wort fort.
Der alte Major nickte verständnisvoll und ein wenig bewundernd. Man musste immer mannhaft gefasst bleiben, so wie dieser arme Bursche, der im Krieg noch blutjung gewesen sein musste. Wo käme die Welt sonst hin, wenn die Männer alle heulen würden wie die Weiber?
Bei seiner Ankunft in Le Havre herrschte schönster Sonnenschein. Die Luft war kalt und klar, und er sog sie genießerisch ein. Er mochte freundliche Februartage wie diesen, wenn in der Luft schon eine Ahnung des bevorstehenden Frühlings lag. Er verbummelte ein wenig Zeit, bis sein Zug nach Paris abfuhr. Es tat gut, wieder die französische Sprache zu hören, die wohlklingenden Namen auf Straßen- oder Ladenschildern zu lesen, den Duft von Croissants und Kaffee zu riechen, das charakteristische Brummen der Dampfdüsen zu hören, mit denen die Milch aufgeschäumt wurde, und die Auslagen der meist noch geschlossenen Geschäfte zu betrachten, die so anders als in Rio waren. Dieser Morgen, erkannte António erstaunt, gefiel ihm. Er brachte schöne Erinnerungen zurück und weckte in ihm eine Lebensfreude, die er verloren geglaubt hatte.
Bei seiner Ankunft in Paris war der Effekt noch stärker. Wie hatte er vergessen können, wie sehr er diese Stadt liebte? Selbst die Dinge, die andere Besucher in Paris als störend empfanden, mochte er. Die hektischen, gut gekleideten und immerzu drängelnden Großstädter oder der Gestank, der einem aus den Metro-Eingängen mit ihren hübsch verschnörkelten Schildern entgegenwehte, störten ihn nicht im Geringsten. Die alten Damen, die ihre manikürten
caniches
Gassi führten und deren Hinterlassenschaften mitten auf den Trottoirs liegen ließen, regten ihn ebenso wenig auf wie das wilde Gehupe und das Chaos von Autos rund um den Arc de Triomphe oder die herablassende Art, mit der selbst Kioskbesitzer oder Fahrkartenkontrolleure die Leute behandelten. Das alles gehörte zu Paris und machte es so unverwechselbar wie der Eiffelturm oder Notre-Dame.
Er quartierte sich für die ersten Tage in einem Hotel ein, von wo aus er in Ruhe ein möbliertes Appartement suchen konnte. Oder sollte er direkt eines kaufen? Er hatte seine Wohnung in Flamengo verkauft, aber von dem Geld würde er in Paris nichts auch nur annähernd Vergleichbares bekommen. Er würde es auf sich zukommen lassen. Wenn er eine Immobilie entdeckte, die erschwinglich war und ihm zusagte, würde er sie kaufen, aber er hatte keine Eile. Möblierte Mietwohnungen hatten ja auch ihren Charme. Sie gaben einem das Gefühl von Freiheit – man konnte jederzeit seinen Koffer packen und unbelastet von sperrigem Eigentum von dannen ziehen. Sie weckten in ihm auch nicht das Bedürfnis, sie zu verschönern, so dass einem der Kauf von Gemälden oder Dekorationsgegenständen, die irgendwann einmal nur Ballast wären, gar nicht erst in den Sinn kam.
Bewusst hatte António sich diesmal für ein Hotel im 2 . Arrondissement entschieden, nahe der Oper, denn seine alte Nachbarschaft, so befürchtete er, könnte nostalgische Erinnerungen in ihm wecken. Er war hier, um einen Neuanfang zu machen, um zu lernen, wieder Freude zu empfinden. Und es ließ sich ja ganz gut an. Zumindest an Kleinigkeiten konnte er sich schon erfreuen. Dazu gehörte auch, dass direkt unter dem Hotel, das er sich ausgesucht hatte, eine Metro-Strecke verlief. Jedes Mal, wenn ein Zug dort entlangfuhr, vibrierte das ganze Gebäude. Er spürte die Erschütterung sogar in seinem Bett, und in dem Frühstücksraum klirrte das Geschirr in den Schränken. Anfangs hatte ihn dieses Rumpeln irritiert, inzwischen gefiel es ihm. Auch das gehörte zu den Dingen, die es in Rio nicht gab.
In den ersten
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