Unter den Sternen von Rio
nichts dafür, dass die Fahrt so unendlich monoton war. Genauso wenig wie ihn die Schuld daran traf, dass António keinerlei Vorfreude empfand. Es hatte ihn kein Reisefieber gepackt, die Abreise aus Rio hatte ihn nicht melancholisch gestimmt, er war nicht aufgeregt. Eigentlich spürte er … gar nichts. Er fuhr mit dem Schiff nach Europa. Punkt. Er hatte schon Spannenderes erlebt, obwohl er auch die vergangenen beiden Jahre, in denen er sich kopfüber in die Arbeit gestürzt hatte, nicht unbedingt als spannend betrachtete.
Sicher, er war in den Vereinigten Staaten gewesen, er hatte begabte und mutige Visionäre des Flugzeugbaus getroffen und von ihnen lernen dürfen, und das Leben in der Metropole New York hatte ihm die Augen geöffnet für die Möglichkeiten der Zukunft. Die Amerikaner waren ein wunderbares Volk. Alles war möglich, keine Idee war ihnen zu abenteuerlich, als dass man es nicht einmal hätte versuchen können. Selbst diese haarsträubende Prohibition war ja die durchaus mutige und konsequente Umsetzung einer noblen Idee – die natürlich kein normaler Mensch ernst nahm. Den größten Teil ihrer Freizeit hatten António und seine Kollegen in irgendwelchen
speakeasys
verbracht, illegalen Kneipen. Und doch war ihm selbst dort noch, unter dem Einfluss von Hochprozentigem, bei anregender Jazzmusik und inmitten sich amüsierender Leute, zumute gewesen, als lebte er in einem Kokon – seine Wahrnehmungen gedämpft, seine Gefühlswelt abgekapselt von dem, was um ihn herum passierte.
António trauerte. Und er trauerte allein. Er durfte sich nicht als Witwer bezeichnen, noch konnte er behaupten, dass seine Verlobte gestorben war. Caro war in den Augen seiner Mitmenschen nichts weiter als seine Geliebte gewesen, wenn überhaupt, und niemand brachte Verständnis dafür auf, dass er auch nach so langer Zeit noch immer untröstlich über ihren Tod war. An dem Tag, als er es von seinem Vater erfuhr, beschloss er fortzugehen – und setzte seinen Plan innerhalb kürzester Zeit um. Kaum war er aus dem Krankenhaus entlassen worden, packte er seine Siebensachen, beauftragte seine Schwester, sich um alles Weitere zu kümmern, und machte sich auf den Weg nach New York. Er wollte zuvor nicht einmal mehr Caros Grab besuchen, denn es hätte ihm das Herz zerrissen, sie sich als vermoderten, von Würmern zerfressenen Leichnam vorzustellen. Er besaß noch ihr Foto, das war besser als ein Grabstein, zeigte es sie doch in einem der schönsten Momente, die sie gemeinsam erlebt hatten. Das Bild war schon verblasst, es war wellig, aufgequollen und abgegriffen, aber es reichte, um in António die Erinnerung an diesen wunderbaren Tag wachzurufen. Und an die wunderbarste Frau, die er je getroffen hatte.
Genau dieses Foto hielt er jetzt in den Händen und betrachtete es. Er lehnte an der Reling, und in einem unachtsamen Moment hätte ihm der starke Fahrtwind das Bild entreißen können. Wäre das nicht sogar das Beste?, fragte er sich. Ohne dieses Andenken würde er vielleicht eher vergessen, und das war es ja, was offenbar alle für erstrebenswert hielten. »Du wirst sehen, mein Junge, die Zeit heilt alle Wunden. Irgendwann hast du sie vergessen und dann …« Solche Dinge hatte er sich anhören müssen, und er hatte die Leute dafür gehasst. Er wollte sie nicht vergessen! Es war vielmehr eine seiner größten Sorgen, dass er Caro vergessen könnte. Schon jetzt konnte er sich kaum mehr ihre Gesichtszüge in Erinnerung rufen. Wenn er an sie dachte, sah er stets das lachende Gesicht unter der Pilotenkappe vor sich, nicht aber die Caro, die mürrisch, träumerisch oder sinnlich aussah. Er konnte sich einzelne Partien ihres Gesichts noch genau vorstellen, ihren vollen Mund, ihre grünen Augen, ihre sommersprossige Nase. Doch es gelang ihm nicht mehr oder nur noch sehr selten, die Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Es war furchtbar.
»Ein gefallener Kamerad?«, vernahm er die mitfühlende Stimme eines Mitreisenden. Es war ein pensionierter hoher Militär, und er deutete mit dem Kinn auf das Foto in Antónios Händen.
Es war das erste Mal auf dieser Fahrt, dass António den Impuls verspürte, lauthals zu lachen. Ja, auf den ersten Blick konnte man die Person auf dem Foto durchaus für einen jungen Mann halten. Allzu vertraut war den Leuten der Anblick einer Frau in Pilotenmontur ja nicht gerade. Er nickte, setzte eine betrübte Miene auf und antwortete: »Somme.« Er hatte keine Ahnung, ob bei der verheerenden Schlacht
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