Unter den Sternen von Rio
einer Frau oder aber, was fast noch schlimmer war, er sei nicht auf der Suche nach einer Frau, wisse aber offensichtlich nicht, was gut für ihn sei. So oder so – alle wollten nur sein Bestes, nämlich dass er bald wieder eine Gefährtin fand. Also stellte man ihm bei jeder Gelegenheit junge Damen vor, denen die Situation mindestens ebenso unangenehm war wie ihm. Einige der Frauen waren sehr hübsch, manche waren darüber hinaus auch unterhaltsam und geistreich. Dennoch hatte António überhaupt keine Lust, sich mit einer von ihnen näher einzulassen.
Die Frau, die ihm heute Abend zugedacht worden war, hieß Marlène. Obwohl António nicht viel für kühle Blondinen übrighatte, konnte er nicht umhin, ihre Schönheit zu bewundern. Sie war, wie sich herausstellte, Elsässerin, und sie studierte in Paris Physik. Das war doch mal etwas Neues, dachte António. Eine schöne Frau, die sich in eine solche Männerdomäne vorwagte, konnte so uninteressant nicht sein.
»Finden Sie es auch so lästig, dass man Sie immerzu verkuppeln will?«, fragte sie ihn freiheraus und mit einer rauchigen, sinnlichen Stimme.
»Heute ausnahmsweise nicht«, entgegnete er. Sie honorierte seine charmante Antwort mit einem geheimnisvollen Lächeln.
»Wo habt ihr dieses Schmuckstück so lange versteckt?«, fragte sie Richard und Yvette, in deren Schlepptau sie gekommen war. »Er ist ja ein mediterraner Adonis von teutonischem Wuchs. Ich dachte immer, alle Brasilianer seien dunkelhäutige Zwerge.«
António lachte. Sie gefiel ihm, diese anmaßende Marlène.
»Ich dachte mir schon, dass er deinem Geschmack entspricht«, meinte Yvette leichthin.
»Ich muss sofort nach Brasilien!«, rief Marlène.
António war diesen frivolen Ton nicht gewohnt, und er störte sich ein wenig daran, dass er hier als Lustobjekt vorgeführt wurde. Andererseits: Was machte es schon? Er würde diese Frau vermutlich nie wiedersehen, und in ihrer Schamlosigkeit war sie äußerst amüsant. Ein paar ordinäre Witze und die eine oder andere liederliche Bemerkung gehörten im Paris des Jahres 1928 ja außerdem fast schon zum guten Umgangston dazu.
»Ich warne Sie: Es gibt dort jede Menge kleinwüchsige Männer mit enormen schwarzen Schnauzbärten«, ging er auf ihre Frotzeleien ein.
Sie verzog das Gesicht in gespieltem Entsetzen.
»Du brauchst sowieso nicht nach Rio zu fahren«, warf Edith ein, »wir gehen gleich in diese Show, die laut Zeitung ›eine zauberhafte Reise in die Tropen, ein Spektakel von südamerikanischem Temperament‹ ist.«
»Wie gut, ich hätte die Kosten für die weite Reise kaum aufbringen können«, meinte Marlène.
Auch das war neu für António, dass die Leute ungeniert über ihre Finanzen sprachen. In Rio würde das kein Mensch tun, und im Paris der frühen zwanzig er Jahre wäre es ebenfalls noch tabu gewesen. Wer kein Geld hatte, tat wenigstens so als ob.
In diesem Tenor ging es noch eine gute halbe Stunde weiter, bevor sie sich auf den Weg zu dem Varieté-Theater machten. Sie legten die Strecke zu Fuß zurück, denn der Abend war trocken und für die Jahreszeit mild. Unterwegs wechselten sie immer wieder die Positionen, so dass António mal neben Marlène, mal neben Richard und schließlich auch neben Jacques herging, der den ganzen Abend noch kein Wort gesagt hatte.
»Was ist los mit dir?«, fragte ihn António. »Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?«
»Ach, es ist nichts. Ich kann nur diese Deutsche nicht ausstehen, diese Marlène.«
»Ich denke, sie ist Elsässerin?«
»Das ist doch dasselbe.«
António hätte gern nachgefragt, was genau er damit meinte, doch durch die vielen Passanten auf dem Trottoir wurden er und Jacques wieder auseinandergedrängt.
Sie erreichten das kleine Theater kurz vor Beginn der Bühnenshow. Sie gaben ihre Mäntel und Hüte ab und ließen sich an ihren Tisch bringen. Dort bestellten sie Champagner, António und Yvette zündeten sich Zigaretten an, Marlène rauchte einen Zigarillo, dann erschien auch schon der Conférencier und kündigte die erste Nummer an.
Es war ein etwas altertümliches Programm, wie man es vor vielleicht zwanzig Jahren gegeben hätte. Es traten Kraftmenschen und »Monstrositäten« wie eine sehr dicke Frau in spärlicher Bekleidung auf, Akrobaten und Messerwerfer zeigten ihr Können, und Tänzerinnen wanden sich im »Tanz der Ekstase« und unter einem »Schleier des Lasters«. Das Gespräch am Tisch ging weiter. Das Programm vermochte niemanden zu fesseln.
António
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