Unter den Sternen von Rio
landete und nicht an einem anderen Ort, der vom Ärmelkanal aus schnell zu erreichen war.
António freute sich über das Wiedersehen mit seinen Kollegen. Er war nur ein wenig enttäuscht, dass ausgerechnet einer seiner besten alten Freunde, Antoine de Saint-Exupéry, nicht mehr in Paris war. Er war als Berufspilot auf der Strecke Toulouse–Casablanca–Dakar eingesetzt worden, erfuhr er, und war mittlerweile Chef eines gottverlassenen Zwischenlandeplatzes auf dem Cabo Juby in Spanisch-Marokko, einer Landspitze rund sechzig Meilen Luftlinie von der Kanareninsel Fuerteventura entfernt. Was mochte ihn nur dazu bewogen haben, sich an diesen Posten versetzen zu lassen? Litt auch er an einem gebrochenen Herzen? António verdrängte die unschönen Gedanken an seinen möglicherweise traurigen Freund und widmete sich stattdessen aktuellen Projekten.
In diesem Jahr endeten die Auflagen, die die Deutschen laut Versailler Vertrag dazu verpflichtet hatten, in den zehn Jahren nach Ende des Krieges keine eigene Flugzeugindustrie zu betreiben. Brasilien hatte den Vertrag ebenfalls unterschrieben, und António gehörte einer Kommission an, die die Entwicklung in der deutschen Luftfahrt beobachten sollte, nun, da sie wieder Luftgerät bauen durften. Mit ihren Zeppelinen hatten die Deutschen die Nase vorn, und auch die Konstruktion wendigerer Flugzeuge lief schnell wieder an. Nicht, dass sie jemals wirklich unterbrochen gewesen wäre: Man hatte einfach im Ausland weitergeforscht und -gebaut. Es standen António demnach auch noch mehrere Reisen in das Nachbarland bevor, wo er Flugzeugwerften inspizieren sollte, insbesondere im Hinblick auf die mögliche militärische Nutzung der Flugzeuge, die weiterhin von den Siegermächten verboten worden war.
Er hatte alle Hände voll zu tun, aber das kam ihm nur gelegen. Neben der Arbeit hatte er neuerdings die bildende Kunst für sich entdeckt. Er streifte gern durch Galerien und Museen, die modernen Gemälde und Skulpturen mit ihrer klaren Formensprache regten ihn an. Der Neoplastizismus eines Piet Mondrian, der synthetische Kubismus eines Pablo Picasso oder die geometrische Abstraktion in den Werken von Wassily Kandinsky sprachen Antónios Technikergehirn viel mehr an, als es die schnörkeligen Kunstwerke des Fin de Siècle je gekonnt hatten. Einige der Künstler waren schon bekannt und ihre Werke teuer. Doch António erstand preiswert eine Skulptur von Jean Arp sowie eine Collage von Georges Braque – er hatte nicht widerstehen können, obwohl er sich immer vorgenommen hatte, eine möblierte Mietwohnung nicht mit eigenen Sachen anzufüllen. Aber mit irgendetwas Schönem musste er sich umgeben, sonst hätte er es dort überhaupt nicht ausgehalten.
Die Drei-Zimmer-Wohnung lag im 9 . Arrondissement und hatte zwei große Vorzüge, deretwegen er sie auch angemietet hatte. Sie war zum einen sehr günstig gelegen, die Metrostation sowie alle Einrichtungen für den täglichen Bedarf, aber auch Cafés, Restaurants, Kinos und Nachtclubs befanden sich in fußläufiger Nähe. Zum anderen verfügte sie über eine kleine Dachterrasse, von wo aus er einen herrlichen Blick über die Dächer von Paris hatte, der allein unbezahlbar war. Die scheußliche Einrichtung hatte er dafür in Kauf genommen, desgleichen das veraltete Bad und den antiken Fahrstuhl, der für die vier Etagen eine Ewigkeit brauchte.
Ganz in der Nähe lag auch das Varieté-Theater Folies Bergères, berühmt-berüchtigt für die hüllenlosen Auftritte schöner Mädchen. Zu gern hätte António sich die Show von Josephine Baker im Bananenröckchen angesehen, die im vergangenen Jahr für Furore gesorgt hatte, aber die lief schon nicht mehr. Dafür gab es nicht weit von hier ein anderes, ähnliches Etablissement, in dem zurzeit eine Brasilianerin auftrat, von der es hieß, sie sei hinreißend. Er war an diesem Abend mit ein paar Freunden dort verabredet.
Sie trafen sich zunächst in einer Brasserie, dem »Petit Trianon«, um eine Kleinigkeit zu essen und sich mit dem einen oder anderen Glas Wein in Stimmung zu bringen. António hatte mit seinem Arbeitskollegen Richard und dessen Frau Yvette sowie dem jungen Piloten Jacques und seiner Verlobten Edith gerechnet, aber es war noch eine weitere Person mitgekommen, eine junge Frau. Er verdrehte im Geiste die Augen – was sollten diese gutgemeinten, aber meist peinlichen Verkuppelungsversuche?
António fand es schrecklich, dass sein ganzer Bekanntenkreis glaubte, er sei auf der Suche nach
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