Unter den Sternen von Rio
fühlte sich zu Marlène hingezogen, und das umso stärker, je mehr er getrunken hatte. Sie unterhielten sich jetzt fast ausschließlich miteinander. Marlène legte immer öfter ihre Hand auf Antónios Arm oder berührte wie zufällig sein Knie, und er ertappte sich dabei, dass er es genoss. Er hatte viel zu lange nicht mehr geflirtet, und diese Frau hatte etwas Unwiderstehliches an sich. Sie war scharfsinnig, selbstbewusst und schön – eine Kombination, die er umwerfend fand. Die anderen Leute am Tisch betrachteten die Annäherung der beiden mit gemischten Gefühlen. Richard und Yvette waren stolz, dass ihnen ausnahmsweise einmal ein Verkuppelungsversuch geglückt war, während Jacques und Edith die beiden turtelnden »Ausländer« eher mit leichtem Unbehagen beobachteten. Sie empfanden »die Deutsche« als zu aufdringlich und den Brasilianer als zu empfänglich für ihre Aufmerksamkeiten. Freizügigkeit hin oder her – so musste man sich in aller Öffentlichkeit ja nicht gerade gehen lassen. Bevor die Intimitäten zwischen den beiden noch zunahmen, begann allerdings der Auftritt der brasilianischen Künstlerin, und António ließ sofort von Marlène ab.
Mit offenem Mund starrte er auf die Bühne. Er kannte dieses Mädchen. Er hatte sie schon einmal gesehen, wo genau, das wusste er nicht mehr, aber es musste in Rio gewesen sein. Und er kannte die Musik. Sie tanzte und sang zu einem beliebten Karnevalslied aus dem vorletzten Jahr. Und dieses Lied, ein flotter Samba, versetzte ihn mit einem Schlag in eine dunkle Gasse in der Innenstadt Rios zurück, wo er und Caro sich in einer brütend heißen Karnevalsnacht geliebt hatten. Er hätte beinahe geweint, so genau sah er sie vor sich, so lebendig war die Erinnerung und so schmerzhaft war das Wissen, dass er sie nie wieder in seinen Armen halten würde.
»Bekommst du davon Heimweh?«, fragte Marlène mit hochgezogenen Brauen.
Diesmal konnte er nicht mit einer gleichfalls sarkastischen Antwort parieren. Er entschuldigte sich mit einem knappen Nicken und verließ für die Dauer dieser Nummer den Saal, um sich auf der Straße von dem Schock zu erholen.
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B el tanzte und sang ihren alten Hit »Frutas Doces«. Hier kannte ihn ja niemand. Aber auch beim Pariser Publikum kam er gut an. Eine der anderen Künstlerinnen hatte ihr einen Zeitungsausschnitt gezeigt und aufgeregt auf eine Zeile gedeutet, die Bel natürlich nicht verstand. Was sie indes verstand, war, dass »Bel de Nuit«, das sollte wohl sie sein, anscheinend von der Kritik gelobt wurde. Na, das war doch kein schlechter Anfang.
Seit drei Wochen trat sie jetzt in diesem abgewrackten Theater auf, und die Dinge verliefen zufriedenstellend. Der Chef zahlte pünktlich, das heißt wöchentlich, die Gage. Die Kollegen waren freundlich. Die Show war gut besucht, zumindest an den Wochenenden und seit dieser Zeitungsartikel erschienen war. Das Wetter war etwas freundlicher geworden, und die Tage wurden wieder länger. Jetzt wurde es nicht schon um vier Uhr nachmittags, sondern erst gegen sechs dunkel. Einer der Akrobaten, ein Russe namens Wladimir, hatte ihr mit Händen und Füßen zu verstehen gegeben, dass es im Hochsommer sogar noch abends um zehn hell sein würde, aber da hatte sie seine pantomimischen Erklärungen wohl falsch interpretiert, denn das konnte ja nicht sein!
Ihre Französischkenntnisse waren noch immer sehr mangelhaft, während Augusto gute Fortschritte im Erlernen der Fremdsprache machte. Er hatte nicht nur mehr Mut, seine paar Brocken anzuwenden, sondern er hatte auch viel mehr Kontakt zu Franzosen. Während sie eigentlich nur mit den Künstlerkollegen zu tun hatte, die aus aller Herren Länder kamen und oft noch weniger Französisch sprachen als sie, sauste Augusto von früh bis spät durch die Stadt und widmete sich seiner Lieblingsbeschäftigung: dem »Organisieren«.
Sie brauchte eine Ersatz-Ananas aus Pappmaché? »Lass mich nur machen, ich organisiere eine neue.« Sie hatte mal wieder Lust auf einen deftigen Eintopf aus schwarzen Bohnen? »Kein Problem, Schatz, ich organisiere uns schon irgendwo
feijão preto.
« Sie suchte nach einem Friseur, der in der Lage war, mit dem schwarzen Kraushaar etwas anzufangen? »Liebling, ich organisiere dir den besten Negercoiffeur von ganz Paris.« Und so war es auch. Sein Talent fürs Organisieren war absolut erstaunlich. Es gab nichts, was er nicht schaffte, kein Wunsch war ihm zu abstrus, als dass er ihn nicht erfüllt hätte. Er war ein echter Gewinn
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