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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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für sie. Nur als Ehemann konnte Bel ihn nicht wirklich ernst nehmen.
    Augusto war in ihren Augen mehr als nur ein sehr guter Freund. Sie liebte ihn wie einen Bruder. Aber als Mann? Zugegeben, für alle anderen Männer hatte sie ebenfalls wenig übrig. Seit diesem Tag im »Casa Blanca« empfand sie nur noch Geringschätzung für sie, das heißt, für solche, die sie überhaupt als Männer wahrnahm. Augusto gehörte nicht dazu, genauso wenig wie ihr Vater. Und so verführerisch ihre Posen auf der Bühne auch wirkten, so unecht waren sie doch. Anders als vor jenem schrecklichen Tag, als sie ihre Reize noch einsetzte, weil ihr die Reaktionen darauf gefielen, tat sie es heute nur noch, weil sie die Bewegungen gut einstudiert hatte und weil das Publikum so etwas nun einmal sehen wollte. Sie empfand keinerlei Triumph oder gar Macht über die Männer. Es war ihr völlig gleichgültig, ob sie sie erregte oder nicht. Sie wackelte mit den Hüften und den Brüsten, weil es die Choreographie verlangte, und nicht, weil es ihr Spaß machte. Man hätte glauben können, dass die Zuschauer ihren mangelnden Enthusiasmus irgendwie spürten, aber das taten sie nicht. Dummköpfe, allesamt, fand Bel. Je mehr sie sie verachtete, desto mehr jubelten sie ihr zu.
    Heute hatte sie geglaubt, ein bekanntes Gesicht im Zuschauersaal entdeckt zu haben. Ein sehr attraktiver, südländisch wirkender Weißer. Woher kannte sie ihn nur? Sie kramte in ihrem Gedächtnis herum, kam aber nicht darauf. Er wäre ihr niemals aufgefallen, wenn er nicht genau während ihres Auftritts aufgestanden wäre und den Saal verlassen hätte. Da hatte sie einen kurzen Blick auf sein Gesicht erhascht, und seitdem ließ es ihr keine Ruhe mehr. Als Augusto nach ihrem Auftritt zu ihr in die Garderobe kam, um sie abzuholen, bat sie ihn, sie durch den Hauptausgang hinauszubegleiten.
    »Wieso? Du weißt doch, dass der Chef das nicht gern sieht. Außerdem ist es durch den Hinterausgang kürzer nach Hause.«
    »Da sitzt einer im Publikum, den kenne ich. Ich will ihn mir noch einmal genauer anschauen.«
    »Wozu?«
    »Ich weiß auch nicht. Es piesackt mich, dass mir nicht mehr einfällt, woher ich ihn kenne.«
    »Na schön, auf die Gefahr hin, dass wir uns einen üblen Rüffel einfangen.«
    Sie zuckte mit den Achseln. Was sollte schon passieren? Rauswerfen würde man sie wohl kaum, wenn schon die Presse auf sie aufmerksam geworden war – als der wahrscheinlich ersten Nummer in diesem Saftladen, der diese Ehre zuteilwurde. Eigentlich fand sie es sogar an der Zeit, nach einer Erhöhung der Gage zu fragen. Aber gut, darüber würde sie später nachdenken. Jetzt wollte sie herausfinden, wer der Kerl war.
    Sie schlichen durch die schlecht beleuchteten, muffigen Flure und Treppen zu der Tür, die zu dem vorzeigbareren Teil des Theaters führte. Bel öffnete eine Seitentür, die als Notausgang diente, obwohl die Türklinke von innen fehlte, einen Spaltbreit. Ja, da saß er wieder, der schöne Mann, zusammen mit einer Gruppe von Leuten, die allesamt nach Geld und Klasse aussahen.
    »Siehst du«, sagte sie zu Augusto, »der da, neben der Blondine in dem goldenen Kleid.«
    »Der Typ mit der verrutschten Fliege und dem zerzausten Haar?«
    »Genau der. Kennst du ihn?«
    »Nein. Könnte aber Brasilianer sein. Sicher kennst du ihn von zu Hause.«
    »Natürlich«, entgegnete sie spitz. »In Paris habe ich ja bisher noch niemanden außerhalb des Theaters kennengelernt.«
    Der Vorwurf war unüberhörbar: Augusto führte sie zu selten aus. Er versuchte die Kritik an seiner Politik der Sparsamkeit zu ignorieren und fragte: »Hast du Heimweh oder was?«
    »Ach, ist ja auch egal. Lass uns nach Hause gehen«, wich sie seiner Frage aus. Denn instinktiv hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie litt unter Heimweh, mehr als sie sich selber eingestehen mochte. In Rio begann dieser Tage der Karneval, es war Sommer, die Mangos waren reif und süß. Die Menschen trugen dünne Kleider oder kurzärmlige Hemden, die Fahrer von Cabriolets ließen die Verdecke herunter, die Eisverkäufer hatten Hochsaison. Und Musik, überall war Musik! Die Marktverkäufer oder die Waschfrauen trällerten schlichte, populäre Liedchen, die Grammophonbesitzer ließen ihr Gerät bei offenen Fenstern die ganze Nachbarschaft beschallen, alte wie junge Männer saßen in Grüppchen im Freien und spielten auf ihren Instrumenten. Das fehlte ihr vielleicht am meisten in dieser kalten Stadt: dass niemand sang oder auch nur mal mit den

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