Unter den Sternen von Rio
wurden und es zu keinem Skandal gekommen war. Dennoch mied Vitória seitdem das vornehmste Hotel der südlichen Hemisphäre: Es handele sich doch wohl um einen »Saftladen«, behauptete sie, wenn man bei der Sitzordnung nicht einmal die elementarste Kenntnis der sozialen Strukturen der Hauptstadt walten ließe.
Als der älteste Carvalho-Spross sich um die Aufnahme an derselben höheren Schule für katholische Knaben bewarb, an der auch ihr Sohn Pedro lernte, sorgte Vitória mit einer sehr großzügigen Spende dafür, dass der Junge abgewiesen wurde. Madeleine Carvalho zahlte es ihr heim, indem sie in den gehobenen Kreisen Andeutungen über den moralisch verwerflichen Lebenswandel der Senhora Castro da Silva fallenließ, die natürlich jeglicher Grundlage entbehrten. Daraufhin streute Vitória das Gerücht, Roberto Carvalho halte sich eine 14 -jährige dunkelhäutige Geliebte, und wer könne es ihm schon verdenken? Der Anblick seiner Frau Gemahlin müsse ja auch den anspruchslosesten Mann in die Flucht schlagen. Roberto Carvalho indes, der sich in der Tat mit einer jungen, allerdings eher hellhäutigen Mulattin amüsierte, einer von vielen in der Zeit seiner langjährigen Ehe, beschränkte sich auf geschäftliche Vergeltungsmaßnahmen. Seine verwandtschaftlichen Beziehungen zum Chef des Katasteramtes halfen ihm dabei, Vitória immer wieder lukrative Grundstücks- und Immobilientransaktionen zu vermasseln.
»Ich verstehe wirklich nicht, warum ihr euch permanent bekriegt«, sagte León jetzt zu seiner Frau, die ihm gegenüber im Salon saß und ihm gerade von einer weiteren vermeintlichen Schandtat Carvalhos berichtet hatte. »Das ursprüngliche Vergehen war ja wohl jenes, dass er dir ein Filetgrundstück weggeschnappt hat. Und wennschon? Sagst du nicht selbst gern, Konkurrenz belebe das Geschäft?«
»León, bitte! Dieser Wurm ist nicht mein Konkurrent. Er ist ein schmieriger kleiner Verbrecher. Er ist durch und durch verlogen, und sowohl seine abschreckend hässliche Frau als auch seine missratene Brut reichen ihm in diesem Punkt das Wasser.«
»Ich kann es trotzdem nicht ganz nachvollziehen.«
»Natürlich kannst du das nicht. In geschäftlichen Dingen warst du ja noch nie sehr … raffiniert.«
»›Raffiniert‹ ist wohl kaum das richtige Wort, um deinen Rachefeldzug zu beschreiben. Und der Gipfel deiner ›Raffinesse‹ war dabei eindeutig der unerquickliche Vorfall neulich beim Gouverneur.«
»Gelacht hast du aber trotzdem darüber.«
»Es war wahrscheinlich eher Galgenhumor. Vita, du kannst andern Leuten nicht Streiche spielen, die dem Kopf einer 13 -Jährigen entsprungen zu sein scheinen.«
»Wie du siehst, kann ich das. Ach, war es nicht herrlich, wie verzweifelt dieses Gesindel seinen Platz gesucht hat?« Vitória lachte laut auf. Die Erinnerung an den Tag erheiterte sie jedes Mal. Sie hatte in einem unbeobachteten Moment die Tischkarten für Roberto und Madeleine Carvalho weggenommen, sie umgeklappt und erfundene Namen auf die Rückseiten geschrieben. Irgendwann hatte sich das vermeintliche Missverständnis natürlich aufgeklärt, aber es hatte eine Weile gedauert. Vitória hatte alles beobachtet. Vor unterdrücktem Lachen waren ihr Tränen in die Augen geschossen.
»Da wir schon beim Thema Tischkarten sind – wir müssen dringend die Gästeliste für die Hochzeit noch einmal durchgehen.«
»Was gibt es denn da durchzugehen?«, fragte Vitória. »Sie ist doch unmissverständlich.«
»Du hast vergessen, dass es sich um die Hochzeit unserer Tochter handelt und nicht um eine Versammlung deiner Geschäftspartner.«
»León, wirklich. Du wirst alt und rührselig.«
»Und du bist kalt und herzlos wie eh und je,
Sinhazinha.
«
»Seit wann hat eine Hochzeit denn mit Herzensdingen zu tun?«
»Ach,
meu amor …
«
»Jetzt komm mir bloß nicht mit
Liebe.
Ana Carolina liebt Henrique nicht. Sie will nur endlich verheiratet und halbwegs mündig sein. Ich kann es ihr nicht verdenken. Viele andere Möglichkeiten gibt es ja nicht für Frauen, sich zu emanzipieren. Und ich muss sagen, in dieser Hinsicht hat sie die perfekte Wahl getroffen. Henrique ist ein Schaf. Er wird alles für sie tun – und sie alles tun lassen.«
»Dein Mangel an Romantik schockiert mich bis heute.«
»Und mich erschüttert noch immer deine Sentimentalität. Aus dem Alter sind wir doch nun wirklich heraus.« Vitória betrachtete den Mann, mit dem sie seit fast vierzig Jahren verheiratet war. Und obwohl sie durchaus seine
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