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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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selber in jungen Jahren, und sie brauche einfach mehr Freiraum.
    Freiraum, pah!
    Ana Carolina war freier, als ihr guttat. Sie lief halbnackt in der Gegend herum, ihre Röcke reichten gerade einmal bis zur Mitte der Waden. Sie konnte mit ihrem Verlobten Ausflüge machen, ohne dass irgendjemand sie dabei beaufsichtigte, wie es früher noch üblich gewesen war. Sie schlug sich mit Henrique und ihren Freunden die Nächte um die Ohren, ging in Music Halls und Nachtclubs. Sie rauchte und trank in aller Öffentlichkeit. Sie warf ihr, Dona Vitórias, Geld zum Fenster hinaus, indem sie schmucklose Möbel und Gemälde untalentierter Maler kaufte. Was zum Teufel war daran unfrei?!
    Das Mädchen hatte einfach Rosinen im Kopf. Sie träumte davon, Rennwagen zu fahren oder gar Flugzeuge zu fliegen. Pilotin! War es denn falsch von einer Mutter, wenn sie ihrer völlig unreifen Tochter solchen Unsinn verbot? Es geschah doch nur zu Ana Carolinas Bestem. Es waren Männerdomänen, in denen eine junge Frau nichts verloren hatte. Man würde sie nur schikanieren, hänseln und demütigen. Und warum musste sich ihre Tochter ausgerechnet auf Hobbys kaprizieren, die tödlich enden konnten? Die Vorstellung, wie Ana Carolina in so einem Doppeldecker gegen einen der vielen steilen Berge von Rio prallte, ließ Vitória das Blut in den Adern gefrieren.
    Um die unschönen Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, ging sie in ihr Büro und stürzte sich dort auf die Lektüre der Aktienkurse. Sie musste nicht lange überlegen, welche Papiere sie behalten und welche sie abstoßen sollte: Vitória verstand die Sprache der Zahlen intuitiv. Sie nahm den Telefonhörer zur Hand und ließ sich mit Direktor Gonçalves von der Bank verbinden.
     
    Am Abend war Vitória wieder in äußerst aufgeräumter Stimmung. León und sie hatten in einem neu eröffneten Restaurant gegessen und waren von der Qualität der Speisen positiv überrascht gewesen. Sie hatten sich eine Flasche des besten Bordeaux-Weines dazu gegönnt und waren anschließend in die Spätvorstellung des Filmtheaters gegangen, genau in der richtigen Laune für die albernen Späße von Charles Chaplin. Danach hatte Vitória Seitenstechen, so sehr hatte sie sich vor Lachen ausgeschüttet. Allerdings verging ihr das Lachen kurz darauf wieder.
    Als sie den Vorführsaal verließen, sah sie in der hellen Gasbeleuchtung die anderen Gäste des Theaters, darunter einige bekannte Gesichter.
    »Dona Vitória, Seu León, wie schön, Sie hier zu treffen!«, begrüßte sie ein Mann von mittelbrauner Hautfarbe und unbestimmten Alters. Er mochte 25 oder auch 45  Jahre alt sein. Er hatte das distinguierte Auftreten eines älteren Herrn, dazu aber das faltenfreie Gesicht eines jungen Burschen.
    »Nett, dich zu sehen, Felipe«, antwortete Vitória. Ihre unhöfliche Verwendung des »Du« war durchaus kein Versehen, wie es manchen älteren Weißen noch unterlief, weil sie sich an die veränderten Umstände nie hatten gewöhnen können. Es war Vitórias volle Absicht gewesen. Immerhin besaß dieser Mulatte die Frechheit, sich als ihr Neffe auszugeben.
    »Felipe!«, freute León sich und klopfte dem Jüngeren jovial auf den Rücken. »Wie geht es Ihrer Frau Mama?«
    »Gut, sehr gut, danke der Nachfrage. Sie geht ganz in ihrer Rolle als Großmutter auf.«
    Während die beiden Männer weiter Nettigkeiten austauschten, schaute Vitória demonstrativ auf die Uhr und wippte nervös auf den Füßen. Es war unübersehbar, dass sie fortwollte. »Nun komm schon, León, es war ein langer Tag. Für den jungen Felipe sicher auch …«, drängelte sie schließlich.
    »Verzeihen Sie vielmals«, beeilte Felipe sich zu sagen, »ich wollte Sie bestimmt nicht aufhalten. Und ich muss ja ebenfalls nach Hause.« Er verneigte sich leicht. »Eine gute Heimfahrt wünsche ich Ihnen,
tia.
«
    Tia
 – Tante – nannte er sie frech in aller Öffentlichkeit! Vitória hob verächtlich die Augenbrauen, drehte sich um und stapfte entschlossen Richtung Ausgang. León folgte ihr Sekunden später.
    Erst als die Türen ihres Automobils sich hinter ihnen schlossen, zeigte sich das ganze Ausmaß von Vitórias Wut.
    »Dieser impertinente Hochstapler! Er ist genauso wenig mein Neffe wie sein Vater Felix mein Bruder war. Selbst wenn Felix ein Bastard meines Vaters gewesen sein sollte, was ich bis heute bezweifle und was niemals bewiesen werden konnte und obendrein eine extrem widerwärtige Vorstellung ist, selbst dann also war Felix nicht mein Bruder. Er war

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