Unter den Sternen von Rio
andere Stadt auf der Welt vorzuweisen! Und ein paar schöne Tanzlokale hatten sie schließlich ebenfalls. Sie würde ihrer Cousine schon beweisen, dass sie hier keine Hinterwäldler waren.
Als die Bahn an der Endstation anlangte und Ana Carolina aufstand, lief ein Schweißtropfen ihre Waden hinab. Diese verfluchte Hitze! Sie wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass sie Hosen tragen könnte – die saugten die Feuchtigkeit gleich in den Kniekehlen auf. Auch in ihrem Dekolleté hatten sich feine Perlen gebildet, und ihre schwitzigen Finger hatte sie schon auf halber Strecke von Henriques Hand gelöst. Puh! Nichts wie raus aus dem Waggon. Zwar musste man die letzten Meter bis zum Gipfel zu Fuß zurücklegen, eine weitere schweißtreibende Angelegenheit, doch war man erst einmal ganz oben und stand an der Brüstung, pustete der Wind einen schon trocken.
Schweigend kämpften die beiden sich den steilen Weg und die Treppen hinauf. Henrique grüßte ein paar Männer, die ihnen begegneten, die ihrerseits den Hut vor Ana Carolina lupften und ihr anerkennende Blicke zuwarfen. Als sie die Baustelle erreichten, die nicht so betriebsam schien, wie sie es hätte sein sollen, keuchten beide von der Anstrengung des Aufstiegs. Henrique wischte sich verstohlen die Stirn mit dem Ärmel seines weißen Leinenanzugs, während Ana Carolina sich Wind mit der Zeitschrift »L’Officiel de la Mode« zufächelte, die sie aus ihrer Handtasche gezogen hatte.
»Ah, der werte
engenheiro
Almeida Campos und seine zauberhafte Verlobte!«, hörten sie eine Stimme jovial rufen. Es war ein Kollege Henriques, den Ana Carolina vom Sehen kannte. Henriques Gesicht nahm einen geschäftsmäßigen Ausdruck an, als er den Freund zurückgrüßte. Dann wandte er sich an seine Begleiterin.
»Meine Liebe, du weißt ja, dass ich mich hier um ein paar Dinge kümmern muss. Du nimmst es mir nicht übel, wenn ich dich kurz deinem Schicksal überlasse, oder etwa doch?«, fragte Henrique mit besorgter Miene.
»Aber nein, nun geh schon. Ich kenne mich hier doch bestens aus. Ich werde ein wenig herumschlendern und den Ausblick genießen. Wir treffen uns am Südbalkon.« Damit gab Ana Carolina ihrem Verlobten einen kleinen Schubs und zwinkerte ihm zu. »Bis später,
querido.
Und lass mich nicht allzu lange warten.«
Ana Carolina spazierte langsam um den Gipfel herum, bis sie an einer Stelle angekommen war, an der sie keiner sehen konnte. Dort nahm sie erleichtert ihren Hut ab und fuhr sich durch ihr feuchtes Haar. Wer hatte nur diese unpraktischen
cloches
erfunden? Sicher kein Bewohner der Tropen. Unter den modischen, eng anliegenden Topfhüten, die bis zu den Ohren reichten, schmolz einem förmlich das Hirn weg!
Sie ließ ihren Blick über das dichte Grün des Tijuca-Waldes schweifen und atmete tief durch. Fasziniert betrachtete sie das Spiel der Wolken, die sich an den Gipfeln der anderen Berge, an der Pedra da Gávea und an den Dois Irmãos, stauten und zu immer neuen Formationen auftürmten. Hier auf dem Corcovado passierte es nicht selten, dass man sich über den Wolken befand. Und manchmal auch mitten darin. Heute jedoch waren es nur einzelne Wolken, die über die Stadt zogen. Ana Carolina breitete die Arme aus und lehnte sich gegen den Wind. Ah, wie gut das tat! Die Luft, die auch hier oben noch warm war, trocknete ihre Kleidung und ihre Haut. Jetzt fehlte nur noch etwas zu trinken, dann wäre ihr Glück perfekt. Hoffentlich dachte Henrique daran, wenn er nachher zu ihr stieße.
Sie zündete sich eine Zigarette an und genoss mit geschlossenen Augen den leichten Schwindel, der sie beim Inhalieren jedes Mal überkam. Es tat gut, sich dem kleinen Laster einmal ungestört hingeben zu können, ohne dass Henrique, ihre Eltern oder gar ihr altes Kindermädchen, die ehemalige Sklavin Taís, sie dafür kritisierten.
Als sie die Augen wieder öffnete, umhüllte sie dichter Nebel. Sie befand sich mitten in einer Wolke! Wo diese so plötzlich hergekommen war, war Ana Carolina unbegreiflich, aber dasselbe Phänomen hatte sie zuvor schon beobachtet. Die Luftströmungen hatten an dem steil aufragenden Berg eine völlig andere Dynamik als unten auf dem Meeresniveau, so dass harmlose Wölkchen sich in Sekundenschnelle am Steilhang zum Gipfel heraufbewegten und sich dort zu einer bedrohlich wirkenden dicken Suppe zusammenbrauten. Ana Carolina wusste, dass sich der Nebel so schnell wieder auflösen würde, wie er sich gebildet hatte. Dennoch gruselte sie sich ein wenig.
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