Unter den Sternen von Rio
zerfurchte Haut sah, sein weißes, noch immer volles Haar und seine leicht gekrümmte Gestalt, hätte sie ihn niemals als alten Mann wahrgenommen. Es war, als habe sich das Alter wie eine Maske auf die vertrauten Züge gelegt. Sie würde nie aufhören, hinter die Maske zu schauen. Sie würde immer den Mann sehen, der er einst gewesen war, den schönen, glutäugigen, stolzen Rebell.
Umgekehrt ging es León ebenso.
Seine Vita mochte grau geworden sein und einen harten Zug um den Mund bekommen haben, sie wäre auf immer seine »Sinhazinha«, die bildhübsche, eigenwillige Tochter des Sklavenhalters.
»Ich darf nicht mehr sentimental sein, während du dir in deinem auch nicht gerade jugendlichen Alter die Freiheit herausnimmst, dich wie ein Backfisch aufzuführen?«
»Das ist etwas ganz anderes.«
»Selbstverständlich.« León grinste spöttisch.
Vitória kniff die Lippen zusammen. Diesen überheblichen Gesichtsausdruck kannte sie zur Genüge. Sie würde auf Leóns Provokationen nicht hereinfallen! Um nicht mit einem bissigen Kommentar herauszuplatzen, konzentrierte sie sich auf die Tischplatte und wischte ein imaginäres Staubkörnchen mit der Hand fort. Der Blick auf ihre Hand wiederum verdarb ihr erst recht die Laune. Sie sah dicke blaue Adern und eine Menge bräunlicher Flecken – die Hand einer alten Frau. Wann war das geschehen? Wie hatte sich das Alter so hinterrücks anschleichen können? Und wieso sah es in ihrem Kopf kaum anders aus als vor Jahrzehnten? Es war scheußlich, wenn das Äußere nicht das Innere eines Menschen widerspiegelte.
»Nun«, sagte sie und sah zu León auf, »zurück zum Thema. Welche Personen genau sind es, die du nicht einladen willst? Ich könnte mich eventuell dazu überreden lassen, eine Handvoll Gäste zu streichen.«
»Der Bankdirektor Gonçalves zum Beispiel.«
»Ausgeschlossen. Ich habe ihm ein äußerst vorteilhaftes Darlehen abgeschwatzt, das …«
»Ich will es gar nicht so genau wissen. Also von mir aus, soll er halt kommen. Seine Frau ist ja wenigstens ganz unterhaltsam. Nun, dann wäre da noch der Hafenmeister …«
»Ich
muss
ihn einladen, León, auch wenn es mir selbst widerstrebt. Der Kerl steckt mit den Zollbeamten unter einer Decke, und ohne sein, ähm, Wohlwollen müsste ich ein Vermögen für die Waren berappen, die ich importiere. Dann würde sich aber das Geschäft nicht lohnen. Ich kann die Grammophone nur gewinnbringend verkaufen, wenn …«
Abermals unterbrach León seine Frau, diesmal mit einem unwirschen Abwinken. »Verschone mich mit den Details deiner vielfältigen Unternehmungen.«
»Wir leben immerhin nicht schlecht davon«, zischte Vitória und ließ ihren Blick vielsagend über das Interieur des Salons schweifen, der ganz im »style moderne« gehalten war. Ein Rosenholzsofa des hochgelobten Designers Jacques-Émile Ruhlmann beherrschte den Raum, doch es fanden sich auch elegante Clubsessel aus schwarz lackiertem Holz und cremefarbenem Ziegenleder neben einem eleganten Sideboard mit Wurzelholzfurnier und Chrombeschlägen. Darauf stand eine prachtvolle Vase von Lalique, an den Wänden hingen Meisterwerke von Braque, Gris und Boccioni. Die Einrichtung hätte direkt aus einer avantgardistischen Pariser Ausstellung stammen können. Sie war äußerst kostspielig gewesen.
»Also schön«, seufzte León, »ich sehe schon, dass ich offenbar keinerlei Mitspracherecht in Sachen Gästeliste habe.«
Ganz recht, dachte Vitória, sprach es aber nicht aus.
Mit einem resignierten Achselzucken nahm er die Liste und studierte sie erneut. Bei manchem Namen runzelte er die Stirn oder schüttelte verständnislos den Kopf. Dann ließ er das Blatt sinken und fragte: »Was ist mit Dona Alma?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Sie steht nicht drauf.«
»Natürlich nicht. Sie ist zu alt und hinfällig, um die beschwerliche Reise anzutreten.«
»Warum überlässt du diese Entscheidung nicht ihr?«
»Weil sie auch geistig nicht mehr ganz auf der Höhe ist.«
»Du willst deine eigene Mutter, immerhin die Großmutter der Braut, nicht einladen?«
»León, immerzu drehst du mir das Wort im Munde um. Ich würde Dona Alma liebend gern hier haben, wie du nur allzu gut weißt«, sie bedachte ihren Mann mit einem ironischen Zucken ihrer Mundwinkel, »aber sie ist verwirrt und zugleich starrsinnig genug, um tatsächlich anzureisen. Das kann ich ihr nicht zumuten.«
»Sie ist für eine über Achtzigjährige in Hochform. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie zeit ihres
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