Unter den Sternen von Rio
Lebens so
leidend
war.«
»Portugal tut ihr gut. Und genau darum sollten wir sie auch nicht mit dieser Einladung quälen. Sie wird sich verpflichtet fühlen zu kommen, und womöglich macht ihr das Klima in Rio den Garaus.«
»Das käme dir aber doch sehr gelegen …«
»Das ist unerhört, León!«
»Ach, meine schöne Sinhazinha – du bist so leicht zu durchschauen.«
»Das bildest du dir nur ein. So, und jetzt Schluss mit der Diskussion. Dona Alma ist
meine
Mutter, und ich habe die Pflicht, zu ihrem Besten zu handeln. Sie wird nicht eingeladen.«
»Wie Sie wünschen, Dona Vitória. Stets Ihr ergebener Sklave.« León deutete eine Verbeugung an und verließ den Salon. Manchmal war es besser nachzugeben, sonst artete das Ganze wieder zu einem handfesten Streit aus. Und heute hatte er einfach nicht die Energie, sich böse Worte – oder zerbrechliche Gegenstände – an den Kopf werfen zu lassen und dabei Gleichmütigkeit vorzutäuschen. Außerdem freute er sich auf den gemeinsamen Besuch des
cine-teatro,
der für heute Abend anstand. Es wurde »Goldrausch«, ein neuer Film mit Charlie Chaplin, gezeigt, und sowohl León als auch Vitória liebten den Schauspieler in seiner Rolle als Vagabund. Nach der Vorführung würden sie in einem Café an der Praça Floriano Peixoto – wegen der vielen Filmtheater auch
Cinelândia
genannt – einen Drink nehmen und alle Szenen noch einmal genüsslich durchgehen. Die Begeisterung für bewegte Bilder teilten Vitória und León bedingungslos, und die gemeinsamen Abende im Kino gehörten zu den harmonischsten ihres turbulenten Ehelebens.
Dass Vita ihre alte Mutter nicht zu der Hochzeit einladen wollte, empfand León als schändlich, obwohl auch er Dona Alma nicht leiden konnte. Da eine Debatte zu dem Thema fruchtlos bleiben würde, musste er sich etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht sollte er Ana Carolina ermuntern, ihre Großmutter direkt anzuschreiben und einzuladen. Er wusste, dass seine Tochter die alte Dame gern hatte. Als Ana Carolina während ihrer großen Europareise eine Zeitlang in Lissabon gewesen war, hatte sie bei Dona Alma gewohnt und sich offenbar glänzend mit ihr verstanden. Er konnte es sich nur damit erklären, dass seine Schwiegermutter einen drastischen Sinneswandel durchgemacht haben musste. Wie auch immer. Sollte Dona Alma dann tatsächlich die Atlantik-Passage auf sich nehmen wollen, konnte Vita immer noch lügen und behaupten, die Einladung müsse bei der Post verlorengegangen sein. Im Lügen war sie ja ohnehin unübertroffen.
Vitória blieb noch einen Moment im Salon sitzen und schluckte ihre Wut hinunter. Es passte ihr nicht, wenn León sie »Sinhazinha« nannte und sich selber als ihren Sklaven bezeichnete, heute noch weniger als damals. Ja, mit 17 , zu Zeiten der Monarchie und der Sklaverei, da war sie tatsächlich eine solche Sinhazinha gewesen, die verwöhnte Tochter eines reichen Kaffeebarons, und León hatte sich einen Spaß daraus gemacht, sie damit aufzuziehen. Dass jedoch ihre jahrzehntelange Schufterei und ihr Erfolg in der Geschäftswelt nichts an Leóns Sichtweise geändert hatten, ärgerte sie. Anders als die meisten Damen der gehobenen Gesellschaft war sie kein Modepüppchen und keine Klatschbase. Ebenfalls anders als die meisten Frauen, gleich welcher Herkunft, hatte sie ein beinahe erotisches Verhältnis zu Zahlen. Sie rechnete gern. Und sie tat es gut. Sie hatte ihr Vermögen in all den Jahren vervielfacht, so dass auf Generationen für alle gesorgt war. Ihre Kinder konnten sich auf ein immenses Erbe freuen. In ihrem portugiesischen Exil, das sie beharrlich als ihre Heimat bezeichnete, lebte Dona Alma das Leben einer allseits verehrten Königinmutter. Selbst León hatte von Vitórias Reichtum profitiert, indem er mit ihrem Geld ein paar Essaybände veröffentlicht hatte, an denen kein Verleger ernsthaft interessiert gewesen war. Und was gab man ihr dafür im Gegenzug? Nichts als Spott und Undank!
Besonders widerspenstig ihr gegenüber zeigte sich Ana Carolina. Während Vitórias Söhne ihr viel Freude bereiteten, indem sie meist ihre Ratschläge befolgten und damit immer gut fuhren, war ihre Tochter nicht ganz so einsichtig, was die mütterliche Erfahrung und Weitsicht anging. Vielleicht lag es daran, dass Ana Carolina eine Frau war und als solche eine viel innigere Beziehung zu ihrem Vater als zu ihrer Mutter hatte. Möglicherweise hatte aber auch León recht, wenn er behauptete, Ana Carolina sei genau wie sie
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