Unter den Sternen von Rio
holte tief Luft. »Sie hat, wie du weißt, Ana Carolina als ihre Haupterbin eingesetzt. Das ist ja auch völlig in Ordnung. Aber weißt du, woraus ihr Nachlass besteht?«
»Nein. Aus Gebetbüchern vielleicht?«, fragte León augenzwinkernd.
»Das habe ich auch geglaubt. Aber hier«, damit winkte sie mit einem Brief, »lies das, dann werden dir die Augen aufgehen.«
León stand auf, nahm ihr den Brief aus der Hand und warf einen flüchtigen Blick darauf. Er erkannte die Handschrift sofort als die von Joana. Er legte den Brief beiseite und ging zur Anrichte, in der er immer eine Flasche Cognac sowie Gläser für derartige Situationen stehen hatte. »Du beruhigst dich jetzt erst einmal, trinkst einen Schluck, und dann berichtest du mir, schön eins nach dem anderen, was in dem Brief steht und was an Dona Almas Erbe so schlimm ist.« Er reichte Vita ein Glas.
Sie trank die Hälfte davon in einem Zug. Danach schüttelte sie sich und schimpfte weiter: »Jahrelang, ach, was rede ich, jahrzehntelang terrorisiert sie uns mit ihrer bigotten Art und ihren eingebildeten Krankheiten. Dann, kaum dass wir sie gut losgeworden sind und sie schön weit weg ist, was sie nebenbei bemerkt ganz allein beschlossen hat, also nach Portugal zu gehen, macht sie einen auf einsame, alte, arme Frau, die von ihrer Tochter fortgejagt wurde und nun am Hungertuch nagen muss. Sie lässt mich zahlen und zahlen, für ihr Haus, für haufenweise Personal, für Ärzte, für Pilgerreisen. Und jetzt stellt sich heraus, dass alles ein einziger Schwindel war. Fátima, pah! Anstatt die Pilgerstätte zu besuchen, hat sie sich mit einem alten Knacker vergnügt und ihn nach Strich und Faden ausgenommen – so wie mich auch. Dieses habgierige, boshafte Weibsstück!«
»Was soll’s? Sie ist tot, Vita. Es braucht dich doch nicht mehr zu kümmern, was sie da in Lissabon getrieben hat.«
»Sie war steinreich!« Jetzt schrie Vita beinahe schon. »Krösus! Und mich lässt sie bluten. Wieso, León? Was habe ich ihr Schlimmes angetan, dass sie mich so ausgenutzt hat?« Inzwischen war Vitas hysterische Schimpftirade in so etwas wie Wehklagen übergegangen. Sie war den Tränen bedenklich nah.
»Meine arme Sinhazinha«, sagte León leise in tröstendem Ton und streichelte ihr den Kopf.
»Ach, León«, seufzte sie und sackte in sich zusammen. Sie fühlte sich wie ein Ballon, aus dem man plötzlich alle Luft herausgelassen hatte.
»Was genau hat sie denn Ana Carolina nun vererbt?«
»Ein Schlösschen, Gemälde, Schmuck, Antiquitäten … Es ist unglaublich, was sie alles gehortet hat.«
León grinste. »Aber das ist doch wundervoll. Sieh es doch mal so: Es bleibt alles in der Familie. Und unsere Tochter hat jetzt ausgesorgt.«
»Es ist ja nicht, als ob ich es Ana Carolina missgönnen würde, überhaupt nicht. Ich freue mich für sie. Was mich bedrückt, ist dieser bodenlose … Verrat, den meine eigene Mutter an mir begangen hat.«
»Vita, Schatz, du bist 62 Jahre alt. Willst du dich wirklich noch über ein Thema aufregen, das dich schon vor über vierzig Jahren zur Weißglut getrieben hat und das längst, äh, verzeih das geschmacklose Wortspiel, gestorben ist?«
Sie sah ihn an, nun wieder einigermaßen gefasst. »Sieh an, León Castro hat den Poeten in sich entdeckt.«
Er ging darauf nicht ein, denn er wusste, dass es gar keinen Zweck hatte. Wenn sie in dieser kampflustigen Laune war, half nur noch die Flucht. »Ich saß gerade an der Arbeit. Würdest du mich jetzt freundlicherweise weiterschreiben lassen? Das, meine Liebe, würde ich dir übrigens ebenfalls empfehlen: zu schreiben. Es hat manchmal eine sehr therapeutische Wirkung. Setz dich hin und beantworte Joanas Brief, danach ist dir wohler.«
»Mir ist wohl. Mir geht es sogar blendend. Und im Gegensatz zu dir benötige ich keine Schreibtherapie.« Sie stand auf und verließ festen Schrittes den Raum, obwohl ihr von dem Cognac ein bisschen schwummerig zumute war.
León setzte sich wieder an seinen Sekretär und nahm den Brief zur Hand. Hatte sie ihn nicht aufgefordert, ihn zu lesen? Genau das würde er jetzt tun.
Beim Abendessen begrüßte Vita ihren Mann mit aufgesetzter Freundlichkeit. »Deine
Therapie
macht Fortschritte?«
»Gewaltige. Aber ich will dich nicht mit den Details langweilen. Du würdest sie ohnehin nicht verstehen.« León hätte gern mit Vita über die Inhalte seiner Kolumne gesprochen. Aber sie war noch immer wütend auf ihn, warum auch immer. Er war sich keiner Schuld
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