Unter den Sternen von Rio
bewusst. Also widmete er sich eifrig dem Filetieren des gebratenen Fischs auf seinem Teller.
»Wahrscheinlich nicht – wenn du sie mir in derselben verquasten Sprache erzählen würdest, in der du deine unlesbaren Texte schreibst.«
»Dabei handelt es sich diesmal gar nicht um einen politischen Text im strengeren Sinn. Ich beschäftige mich in der aktuellen Kolumne mit einer Entscheidung, die die Hygienekommission des Völkerbundes kürzlich getroffen hat.«
»Das klingt rasend spannend.«
»Ist es auch. Es geht um die einheitliche internationale Bezeichnung der Blutgruppen. Man hat sich jetzt zu der AB 0 -Nomenklatur durchgerungen.« León stocherte in seinem Fisch herum, den er äußerst unfachmännisch zerlegt hatte.
»Das ist ja beinahe so aufregend wie … ein toter Fisch.«
»Genau: Es ist viel köstlicher, als es aussieht. Wusstest du zum Beispiel, dass man anhand der Blutgruppe eines Menschen Rückschlüsse auf die Identität der Eltern ziehen kann?«
»Du massakrierst ihn ja förmlich«, warf Vita mit angewidertem Blick auf Leóns Teller ein.
»Das ist hochinteressant, findest du nicht?«
»Hm.« Ihr eigener Fisch erschien ihr offenbar interessanter. Sie zerlegte ihn mit der Präzision eines erfahrenen Chirurgen und täuschte Gleichgültigkeit gegenüber Leóns Ausführungen vor.
»Überhaupt ist die Vererbungslehre ein überaus ergiebiges Gebiet, über das es sich zu schreiben lohnt, nicht nur im Hinblick auf Blutgruppen.«
»Ich weiß nicht, León. Das Thema erscheint mir irgendwie – blutleer.«
Er lachte kurz auf. »An dir ist dann wohl auch eine Poetin verlorengegangen, was, meine liebe Vita? Deine Wortspiele zeugen von einem Sprachwitz, den ich deinem Zahlenhirn nie zugetraut hätte.«
»Es ist ja nichts Neues, dass du mich andauernd unterschätzt.«
»Oh nein, das tue ich bestimmt nicht.« Er schabte die Haut von einem Bissen Fisch und schob ihn sich in den Mund. »Sehr schmackhaft, dieser
badejo.
«
»Es ist
cação.
«
»Auch gut.«
Eine Weile aßen sie schweigend weiter. Mariazinha kam herein und fragte, ob noch jemand einen Nachschlag wolle. Sie verneinten, und das Mädchen zog wieder ab. So friedlich hatte sie ihre Herrschaft beim Essen noch nie erlebt. Sonst stritten sie immer. Sie stellte sich lauschend hinter die Tür, um vielleicht doch noch etwas Interessantes mitzubekommen, aber das Gespräch drehte sich weiterhin um so todlangweilige Dinge wie Vererbung.
»Wusstest du zum Beispiel«, knüpfte León wieder an das Thema an, »dass auch die Vererbung der Augenfarbe bestimmten Regeln unterliegt?«
»Sicher, León. Jedes Kind weiß das. Da braucht man ja nur, sozusagen, die Augen aufzusperren. Ich weiß nicht, mein Lieber, du inspirierst mich heute zu den sagenhaftesten Wortassoziationen.«
»Ich habe dich schon immer inspiriert, nicht nur dazu. Aber worauf ich eigentlich hinauswollte, ist die hochinteressante Entdeckung, dass zum Beispiel ein Kind, dessen Eltern beide blaue Augen haben, zwingend ebenfalls blauäugig ist.«
»Willst du damit endlich beweisen können, von welchen Bastarden du der Vater bist und von welchen nicht?«
»Ich bitte dich, Vita. Du weißt, dass ich dir ebenso treu war wie du mir.«
Hörte sie da einen süffisanten Unterton heraus? Sah sie in seinen Augen ein maliziöses Funkeln? Oder bildete sie sich das nur ein? Waren es ihre eigenen Schuldgefühle, die ihr da einen Streich spielten? Und stimmte es, was er da über die blauen Augen behauptet hatte? Das würde ja bedeuten … oh Gott, es war gar nicht auszudenken.
»Irgendwie schmeckt der Fisch fade«, sagte sie. »Ich habe eigentlich auch gar keinen Hunger mehr.«
»Mir ist der Appetit ebenfalls vergangen.« Er starrte sie durchdringend an, aber Vita tat so, als bemerke sie es nicht. Geschäftig legte sie ihr Besteck an den Tellerrand, faltete die Serviette zusammen und stand auf.
»Entschuldige, mein Lieber, ich denke, ich ziehe mich jetzt zurück.« Mit einem Höchstmaß an Beherrschung ging sie langsam zur Tür, von wo sie ihm ein kurzes Nicken und ein dünnes Lächeln schenkte. »Gute Nacht, León.«
Kaum war sie auf dem Flur, rannte sie hinauf in ihr Zimmer. Sie riss die Fenster sperrangelweit auf und hoffte, dass die frische Luft ihren rasenden Puls verlangsamen würde. Aber es drangen nur ein Schwall heiß-feuchter Luft sowie ein Schwarm Insekten herein, so dass sie die Fensterflügel gleich wieder schloss. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und zwar so heftig, dass sie
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