Unter den Sternen von Rio
befürchtete, gleich einem Infarkt zu erliegen. Was hatte sie getan? Wie konnte sie ihre Schuld jemals wieder sühnen? Sie setzte sich auf den Rand ihres Bettes, eine Hand besorgt auf ihre Brust gelegt, und gab sich der Fülle an Erinnerungen hin, die plötzlich ihr Gehirn überschwemmten, Erinnerungen, die sie gut weggeschlossen zu haben glaubte und die nun mit unerwarteter Wucht ihren Seelenfrieden zu zerstören drohten.
Im April 1902 hatte Vitas Schaffenskraft ihren Höhepunkt erreicht – und ihre Ehe einen Tiefpunkt. Sie war 36 Jahre alt, voller Tatendrang und mit einem Reichtum gesegnet, der ihr die Umsetzung fast all ihrer beruflichen Pläne erlaubte. Sie hatte zwei hübsche, intelligente Söhne, die mit ihren zwölf und zehn Jahren aus dem Gröbsten heraus waren und die beide auf ein vornehmes Internat gingen. Und sie hatte einen Ehemann, der nicht nur eine glänzende politische Karriere hingelegt hatte, sondern auch als Redner brillierte und daher häufig zu lukrativen Vorträgen ins Ausland eingeladen wurde.
León war manchmal monatelang fort. Ihre Kinder kamen nur an wichtigen Feiertagen sowie in den Ferien nach Hause. Und Vita, die sich zuvor in unzähligen Tagträumen nichts sehnlicher gewünscht hatte als ihre Ruhe, litt schrecklich unter der Einsamkeit. Da saß sie nun, in der Blüte ihres Lebens, auf dem Zenit ihrer Schönheit, auf dem Gipfel ihres wirtschaftlichen Erfolgs – und musste sich mit dummen Hausangestellten unterhalten, weil sonst niemand da war. Alle anderen Menschen, mit denen sie je eine enge Beziehung verbunden hatte, waren entweder gestorben oder fortgezogen oder hatten sich von ihr abgewandt. Ihr Bruder Pedro war tot, seine Witwe Joana war nach Frankreich gegangen und hatte dort wieder geheiratet. Ihr Vater war gestorben, ihre Mutter nach Portugal zurückgekehrt. Ihr einstiger Freund Aaron hatte eine Frau aus São Paulo geheiratet und sich seither einem konservativen jüdischen Lebensstil verschrieben, der es ihm anscheinend nicht erlaubte, sich öfter als einmal in fünf Jahren zu melden. Eufrásia, ihre Freundin aus Kindertagen, hatte sich aus Scham über ihren stetig fortschreitenden gesellschaftlichen Abstieg zu einer boshaften Verleumderin entwickelt, zu einer richtigen Krähe, mit der weder Vita noch sonst irgendjemand in der Stadt etwas zu tun haben wollte.
Es war Roberto Carvalho nicht schwergefallen, Vita für sich einzunehmen.
Er war ein paar Jahre jünger als sie und sah sehr gut aus mit seinen blauen Augen und dem schwarzen Haar. Er hatte eine junge Familie, seine Frau war gerade schwanger mit dem zweiten Kind. Roberto war kurz zuvor zum Chef des väterlichen Baustoffhandels aufgestiegen und hatte viele Ideen, wie er die Firma von einem mittelständischen Betrieb zu einem großen Unternehmen ausbauen wollte. Er war raffiniert und skrupellos, beides Eigenschaften, die Vita an ihm gefielen und die ihrer Meinung nach die ideale Grundlage für seinen künftigen Erfolg bildeten. Sie glaubte an ihn und versprach sich viel von einer Zusammenarbeit. Sie hatte das Geld und das Gespür für gute Lagen, er hatte die günstigen Materialien und die richtigen Kontakte zu Leuten aus der Baubranche. Gemeinsam wären sie auf dem Immobilienmarkt unschlagbar.
Ihr erstes gemeinsames Projekt war der Bau eines Geschäftshauses in Laranjeiras. Danach folgten mehrstöckige Wohnhäuser in Glória, Botafogo und Santa Teresa. Und dann, im April 1902 , entwickelten sie ihr bisher ehrgeizigstes gemeinsames Projekt: ein siebengeschossiges Gebäude in dem neu erschlossenen Vorort Copacabana, in dessen Parterre eine elegante Einkaufsgalerie liegen sollte, im ersten und zweiten Obergeschoss Ladengeschäfte oder Praxen und in den oberen Etagen Eigentumswohnungen. Sie hatten beide vor, daran viel Geld zu verdienen. Nächtelang saßen sie zusammen, um Details zu klären und Strategien zur Kostenverringerung und Zeitoptimierung zu entwickeln. Es war eine anregende Zeit, voller Schwung und reich an dem kribbelnden Gefühl, das ambitionierte Leute überkam, wenn sie Erfolg witterten. Vita kannte nicht viele Menschen, mit denen sie diese eigenartige Erregung teilen konnte. Die meisten ihrer Bekannten rümpften sogar die Nase über sie, die sie allzu offensichtlich ihre Ziele verfolgte und ihren Reichtum genoss. Roberto aber war genau wie sie. Er machte keinen Hehl aus seiner Lust am Erfolg, und er war in der Lage, die ihm von der Herkunft oder von der Gesellschaft gesetzten Grenzen einfach zu
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