Unter den Sternen von Rio
León wieder zu Hause eintraf. Die Abende waren nun nicht mehr so einsam, und die Nächte waren es ebenso wenig. Vita hatte keine Lust, ihrem Mann von irgendwelchen nicht existenten Arbeitsessen oder späten Besprechungen zu erzählen, Ausreden zu erfinden, sich immer weiter in Lügen zu verstricken. Sie hatte die Geschichte mit Roberto genossen, zumal er erst der zweite Mann in ihrem Leben gewesen war, dem sie sich hingegeben hatte, und nun war es eben vorbei.
Sie hatte geglaubt, dass Roberto ihre Affäre ähnlich pragmatisch betrachtete wie sie, aber dem war nicht so. Er fühlte sich zurückgesetzt und warf ihr vor, ihn als Lückenbüßer benutzt zu haben. Nun ja, so war es ja auch gewesen, gestand sie sich ein. Aber war das ein Grund, ein Drama daraus zu machen? Er als Mann konnte sich doch jederzeit eine andere Geliebte nehmen, wenn ihn seine schwangere Frau abwies. Bei Männern war so etwas gesellschaftlich nicht verpönt, eher im Gegenteil.
Ein paar Wochen später machte Vita zwei Entdeckungen gleichzeitig: Sie war schwanger. Und Roberto hinterging sie. Er hatte sich große Flächen schönsten Baulandes im Alleingang unter den Nagel gerissen, Flächen, für die er sich ohne ihren Instinkt nie im Leben interessiert hätte. Damit endete ihre Geschäftsbeziehung, wie überhaupt jeglicher Kontakt zwischen beiden Familien fortan vermieden wurde. Das »Carvalho-Pack« war geboren.
Vitas Herzschlag hatte sich wieder normalisiert. Sie schaute sich um und stellte fest, dass die Welt um sie herum nicht eingestürzt war. Da waren noch immer die beige-schwarz gestreiften Vorhänge ihres Schlafzimmers, der schnörkellose Kleiderschrank mit den Spiegeltüren, die kühl-moderne Schminkkommode mit ihren Chromelementen. Ein Zimmer, wie es in einer Architekturzeitschrift des Jahres 1927 hätte abgebildet sein können – sie hatte es erst im vergangenen Jahr neu eingerichtet, und zwar nach den absolut neuesten Trends. Er gefiel ihr, dieser sachliche und zugleich elegante Stil. Sie fand, dass er zu ihr passte.
Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und schluchzte trocken. Sachlich und elegant? Ha! Sie hatte 25 Jahre lang etwas geglaubt, das sich jetzt als falsch herausstellte, und sie hatte alles andere als sachlich und elegant gehandelt. Unsachlich, plump, unnötig grausam, aufdringlich, sogar gefährlich – all das war sie gewesen. All die Jahre, in denen sie nicht gewusst hatte, ob Ana Carolina nun Robertos oder Leóns Tochter war.
Wenn es stimmte, was León vorhin erzählt hatte, dann konnte Ana Carolina nicht Robertos Tochter sein. Roberto hatte blaue Augen, sie selber ebenfalls, Ana Carolina aber hatte grüne. Sie war also immer das gewesen, wovon alle überzeugt gewesen waren: Leóns Tochter. León hatte kein Kuckucksei geliebt, und Ana Carolina hatte nicht den falschen Mann als ihren Vater betrachtet. Alles war in schönster Ordnung.
Oder beinahe. Vor lauter Angst, Ana Carolina könne sich unwissentlich in ihren Halbbruder verlieben, hatte Vita alles unternommen, um die beiden voneinander fernzuhalten. Es war ihr schließlich auch gelungen. Aber um welchen Preis? Ana Carolina hasste sie, und sie würde sie noch mehr hassen, wenn sie erst erführe, dass António gar nicht tot war. León sollte wirklich klüger sein, dachte Vita. Er durfte es ihrer Tochter nicht erzählen! Aber vielleicht, so hoffte sie, hatte er sich diese dumme Idee aus dem Kopf geschlagen, schließlich hätte er sein Schweigen schon längst brechen können. Jetzt, da Ana Carolina in Paris war, das Leben einer lustigen Witwe führte und obendrein eine unglaubliche Erbschaft gemacht hatte, würde sie sich wieder fangen. Sie war jung, und sie würde bald wieder lernen zu lieben. Es gab andere junge Männer, die alles, was António hatte, auch besaßen: Charme und gutes Aussehen, Esprit und dieses gewisse Etwas, das Frauen um den Verstand brachte. Vita konnte sogar nachvollziehen, was ihrer Tochter an António so gefiel – er war, nach allem, was sie gesehen und gehört hatte, dem jungen León verflixt ähnlich. Aber Himmel noch mal! Musste sie sich unter Tausenden von passenden jungen Männern ausgerechnet den Sohn von Roberto Carvalho herauspicken? Womit hatte sie einen so gemeinen Streich des Schicksals verdient?
Vita blieb auf der Bettkante sitzen, lehnte sich aber zurück in die Kissen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie betrachtete die weiß getünchte Decke des Zimmers und den langsam sich drehenden Ventilator mit den
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