Unter den Sternen von Rio
Sonntag Ende April, dachte er nichts von alldem. Er und Marlène spazierten durch die Tuilerien, genossen die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und benahmen sich wie andere Sonntagsausflügler auch. Sie setzten sich auf einen Brunnenrand und sahen den Kindern dabei zu, wie sie Papierbötchen zu Wasser ließen. Sie kauften sich beim Eismann jeder eine große Waffel mit Eiscreme. Sie schlenderten Arm in Arm durch den Park, der genau auf der Achse zwischen Louvre und Triumphbogen lag, und bewunderten die prachtvollen Gebäude aus der Ferne. Sie waren zuvor in den Ausstellungsräumen der Orangerie und des Jeu de Paume gewesen, hatten es aber trotz der beeindruckenden Kunstwerke nicht lange ausgehalten – die Frühlingsluft war viel zu schön, um nicht jede Minute im Freien auszukosten.
»Sollen wir auf der Rue de Rivoli etwas zu Mittag essen?«, fragte António.
»Oder wir gehen noch ein bisschen und suchen uns am Rive Gauche etwas. Da gibt es schönere Lokale«, meinte Marlène.
»Ja, soll mir recht sein.«
»Und anschließend stöbern wir bei den
bouquiniers
an der Seine.«
»Ja, gute Idee. Haben die denn sonntags geöffnet?« António liebte die Antiquariatsbuden entlang des Ufers, er hatte dort schon so manches bibliophile Kleinod und diverse skurrile Bildbände zu technischen Errungenschaften vergangener Epochen erstanden, über die man heute nur noch lachen konnte.
»Ich weiß nicht. Aber es ist in jedem Fall ein schöner Spaziergang«, antwortete Marlène.
António blickte skeptisch auf ihre Füße. Sie trug nicht gerade das geeignete Schuhwerk für einen längeren Marsch – wie immer stöckelte Marlène auf halsbrecherischen Absätzen herum.
Sie deutete seinen Blick richtig. »Ach, das halte ich schon aus. Ich bin es ja gewohnt.«
Es war voll in den Gärten der Tuilerien, aber die Stimmung war ausgelassen. Kinder tobten fröhlich hinter den Tauben her, Hunde wurden von der Leine gelassen und beschnupperten sich gegenseitig, Mütter trösteten ihre Kinder, wenn denen die Eiskugel in den Sand gefallen war. Ein Ball rollte vor Antónios Füße, den er geschickt wegkickte.
»So viele verborgene Talente«, grinste Marlène ihn an. »Ich wusste gar nicht, dass du Fußball spielst.«
»Tue ich auch nicht.«
»Ach so«, lachte sie.
Sie zogen ihre Jacken aus und trugen sie über dem Arm. Es war außergewöhnlich warm für die Jahreszeit – wären die Knospen und Blüten an den Bäumen nicht gewesen, hätte man meinen können, der Winter sei nahtlos in den Sommer übergegangen. Sie überquerten den Pont Royale, unter dem gerade ein Ausflugsschiff hindurchfuhr. Die Passagiere winkten ihnen zu, sie winkten zurück. Am anderen Seineufer, am Quai Voltaire, setzten sie sich an den letzten freien Tisch eines kleinen Bistros und bestellten sich
moules frites,
Miesmuscheln mit Pommes frites, ein einfaches, aber köstliches Gericht.
»Wenn nächstes Wochenende wieder so schönes Wetter ist, können wir einen Ausflug ans Meer machen. Nach Deauville vielleicht«, schlug António vor.
»Ja, das wäre schön. Aber bei dir kommt bestimmt wieder etwas dazwischen«, meinte Marlène bedauernd. Oder hörte er da einen leicht anklagenden Unterton heraus? Es war tatsächlich so, dass er fast nie ein komplettes Wochenende mit ihr verbringen konnte, sei es, weil er arbeiten musste, sei es, weil er das schöne Wetter nutzte, um zu fliegen. Heute hatte er sich ausnahmsweise, trotz der perfekten Flugbedingungen, zu einem trägen Sonntag in der Stadt überreden lassen.
Prompt brummte in diesem Augenblick eine kleine einmotorige Maschine über ihre Köpfe hinweg. António verrenkte sich fast den Hals, als er ihr neidisch nachsah. Eine alte Blériot. Was gäbe er darum, jetzt darin sitzen zu dürfen und eine Runde über das sonnige Paris zu drehen!
Das Essen kam und lenkte ihn ab, denn das Herauslösen des Muschelfleischs verlangte seine ganze Aufmerksamkeit. Es schmeckte köstlich. Sie hatten sich eine Flasche Chablis bestellt und bereits das erste Glas geleert. Bei Marlène machte sich der Alkohol sofort bemerkbar. Sie löste eine besonders fleischige, dunkelgelbe Muschel aus der Schale, schwenkte sie vor Antónios Augen hin und her und machte dazu obszöne Bewegungen mit der Zunge. Er lachte verhalten. Manchmal war sie ihm ein bisschen zu schamlos.
Nach dem Essen wuschen sie ihre Finger in dem eigens bereitgestellten Schälchen mit Zitronenwasser. Satt, zufrieden und ein wenig dösig lehnte António sich zurück, während sie
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