Unter den Sternen von Rio
Holzblättern. Sie hatte so viel Schaden angerichtet, obwohl sie es doch nur gut gemeint hatte. Sie hatte die Liebenden voneinander getrennt, hatte dem Kind seinen Vater vorenthalten und der Frau den Ehemann. Doch all das hatte sie ja nur getan, um alle vor Schaden zu bewahren. Sie hatte doch nicht sehenden Auges zulassen können, dass sich zwei Menschen, die möglicherweise Halbgeschwister waren, das Jawort gaben! Bei Alfredinho hatte sie keine durch Inzest verursachte Degeneration entdecken können, aber das musste ja nicht heißen, dass weitere Kinder ebenfalls gesund zur Welt kamen. Was, wenn die Kinder von Ana Carolina und António Schäden geistiger wie körperlicher Natur gehabt hätten? Sie, Vita, hätte es sich nie verzeihen können, nicht rechtzeitig eingeschritten zu sein.
Und nun stellte sich heraus, dass all ihre Ängste, genau wie ihre Intrigen, umsonst gewesen waren. Anstatt Erleichterung zu empfinden, wurde sie von einer niederschmetternden Trauer ergriffen.
Sie hatte alles gegeben. Und nichts gewonnen.
41
D er März, mit dem in Westeuropa angeblich der Frühling begann, war schaurig. Es schneite noch bis Ende des Monats, und vereinzelt blühende Kirschbäume vermochten nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Natur noch immer nicht ganz aus ihrem Winterschlaf erwacht war. Umso mehr überraschte es António, dass im April, innerhalb von vielleicht zwei Wochen, auf einmal alles Leben mit Macht zurückkehrte. Plötzlich hörte man wieder die Vögel in den Bäumen zwitschern, alles blühte und erstrahlte in einem frischen, hellen Grün, der Himmel zeigte ein intensiveres Blau, und die Temperaturen kletterten so hoch, dass man schon keinen Mantel mehr brauchte. Die Atmosphäre in der Stadt hatte sich vollkommen geändert. Die Cafés stellten Tische und Stühle auf ihre Terrassen oder auf die Trottoirs vor der Tür, die Leute lächelten öfter. Es war eine Erlösung.
Es waren zwar keine Frühlingsgefühle gewesen, die ihn und Marlène zusammengeführt hatten, aber sie waren einander mehr als nur freundschaftlich zugetan. Hinter der kühlen Fassade der Elsässerin verbarg sich eine feurige Liebhaberin, die António die langen Nächte des Winters versüßt hatte, und hinter ihrer schönen Stirn arbeitete ein kühler Verstand, der António imponierte. Es war das erste Mal, dass er einer Frau begegnet war, die das Fliegen nicht als Zauberei oder als Wunder der Technik ansah, sondern die die physikalischen Gesetze dahinter verstand, wahrscheinlich sogar besser als er.
Dennoch flog sie nicht gern. Sie mochte zwar die Gesetze von Druck, Unterdruck, Geschwindigkeit oder Widerstand verstehen – aber kaum saß sie in einem Flugzeug, nützte ihr all ihr Wissen gar nichts mehr. Sie litt unter Flugangst. Und sie litt umso mehr, als sie es ihm gegenüber nicht zugeben wollte. Immer bemüht, das Bild der kühlen, allein von der Ratio geleiteten Frau zu zeigen, blieb sie zwar nach außen hin ruhig, doch António bemerkte die kleinen Anzeichen: ihre Finger, die sich am Griff der Tür festkrallten, ihre starre Haltung, ihre Schweigsamkeit. Er quälte sie nicht länger und sah von weiteren Einladungen zu Rundflügen ab. Er bedauerte zwar, dass sie ihn nicht öfter im Flugzeug begleitete, aber eigentlich machte ihre Flugangst Marlène sympathischer. Es ließ sie menschlicher, schwächer und weniger perfekt erscheinen.
Sie trafen sich nicht allzu häufig. Beide hatten mit Arbeit oder Studium alle Hände voll zu tun, und keiner von beiden wollte den Eindruck erwecken, verliebt zu sein und sich mehr von dieser Affäre zu versprechen. Sie waren stillschweigend übereingekommen, dass sie eine Liebesbeziehung auf Zeit führten, die spätestens mit seiner Rückkehr nach Brasilien oder mit ihrer ins Elsass oder aber mit dem Erscheinen eines
richtigen
Partners enden würde. So war es das Beste. António war froh, dass er nicht Liebe heucheln musste, wo nur Sympathie und körperliche Anziehung vorhanden waren, und er vermutete, dass es bei Marlène nicht viel anders war. Allerdings wurde er nicht recht schlau aus ihr. Manchmal ertappte er sie dabei, wie sie ihn mit einem versonnenen Ausdruck auf dem Gesicht betrachtete, der beinahe Verliebtheit widerspiegelte. Er hoffte, dass er sich täuschte. Er hoffte ebenfalls, dass sie so versiert in der Empfängnisverhütung war, wie sie behauptete. Er wollte nicht gezwungen sein, sie wegen einer unerwünschten Schwangerschaft zu heiraten.
Heute aber, an diesem wunderschönen warmen
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