Unter den Sternen von Rio
älteste Tochter, deretwegen er damals viel zu jung hatte heiraten müssen, war von einer unerträglichen Aufsässigkeit, und sein jüngster Sohn trieb alle mit seinem Wutgebrüll in den Wahnsinn. Manchmal fragte er sich, ob der Kleine wirklich von ihm war. Er konnte sich jedenfalls nicht erinnern, seine Frau in den vergangenen fünf Jahren angerührt zu haben. Andererseits konnte er sich auch nicht vorstellen, dass ein anderer Mann sie begehrte. Sie hatte exakt im Alter von 17 Jahren aufgehört, verführerisch zu sein, nämlich nach der Geburt von Bel. Heute war seine Frau 33 Jahre alt, er selber 37 . Aber manchmal fühlte er sich wie ein Greis.
Besonders wenn, wie jetzt, laute Sambamusik durch die Straßen seines Viertels hallte und die jungen Leute ihre unsittlichen Tänze dazu aufführten, allen voran seine Tochter. Bel trug ein wildes Kostüm aus bunten Federn und nackter Haut, kreiste zu dem rhythmischen Getrommel aufreizend mit den Hüften und wirkte alles in allem wie ein loses Frauenzimmer. Es war ein schockierendes Spektakel, und die nächtliche Stunde ließ es noch obszöner wirken. Darüber hinaus fand er es äußerst irritierend, dass seine Tochter so sinnlich und erwachsen aussah – war sie nicht gerade noch ein braves Schulmädchen gewesen, das bei Papas Rückkehr von der Arbeit vor Begeisterung in die Hände geklatscht hatte?
»Rein mit dir!«, fuhr er Bel an. »Höchste Zeit, ins Bett zu gehen. Und ihr«, damit wandte er sich an die jungen Burschen, die mit nackten, schweißglänzenden Oberkörpern die Trommeln schlugen, »hört jetzt auf mit dem Krach. Ein paar Leute hier müssen früh aufstehen und arbeiten.«
»Ach,
pai,
sei doch nicht so ein Spielverderber. Wir üben nur, bald ist
Carnaval.
«
»Und was genau übt ihr? Wie man die Nachbarn um den Schlaf bringt? Oder die Männer um den Verstand? Sieh dich doch an …«
»Du bist so altmodisch!«, warf Bel ihm mit angewidertem Gesichtsausdruck an den Kopf. »Kommt, Jungs, lasst uns woanders üben. Hier hat man für unsere Proben ja keinen Sinn.« Damit marschierte sie, gefolgt von den jungen Trommlern, davon und ließ ihren perplexen Vater einfach stehen.
Felipe wusste, dass er etwas hätte unternehmen müssen. Um seine väterliche Autorität wenigstens dem Schein nach zu erhalten, hätte er ihr nachlaufen und sie zwingen sollen, mit nach Hause zu kommen. Doch es fehlte ihm schlicht die Energie, sich gegen diese vor Kraft und Selbstbewusstsein strotzende Jugend durchzusetzen. Mit hängenden Schultern betrat er sein Haus.
»Sag bloß, du hast deiner Tochter erlaubt, mit diesen nichtsnutzigen Kerlen mitzugehen«, empfing ihn seine Frau, Neusa, keifend im Flur.
»So wie du ihr zuvor erlaubt hast, in diesem Aufzug das Haus zu verlassen«, zischte er zurück.
Sein drittjüngstes Kind, die neunjährige Lara, verhinderte ein Eskalieren des Wortwechsels zwischen den Eheleuten.
»Papai!«,
rief sie und warf sich in seine Arme.
»Hallo, meine Hübsche!« Er fing sie auf und wirbelte sie herum. »Wieso bist du denn noch wach? Solltest du nicht längst im Bett liegen?«
»Ich bin aufgewacht, als ich dich gehört habe.«
»Na, dann aber nichts wie ab! Du willst doch morgen ausgeruht sein, damit du in der Schule aufpassen kannst und gute Noten schreibst.«
»Ja,
papai
«, antwortete sie kleinlaut. »Aber
mamãe
sagt immer, dass …«
»Es ist jetzt egal, was ich gesagt habe und was nicht«, schaltete Neusa sich ein. »Du gehst wieder ins Bett, und zwar ein bisschen plötzlich.«
Felipe konnte sich sehr gut vorstellen, was seine Frau dem Kind weismachen wollte: dass Bildung für ein Mädchen sowieso überflüssig war. Dies war einer der Punkte, über den seine Frau und seine Mutter, Dona Fernanda, sich ständig in den Haaren lagen. Letztere nämlich, die nach dem Tod ihres Mannes jahrelang erfolgreich das Schreibwarengeschäft geführt hatte, war der Ansicht, dass es sich genau umgekehrt verhielt und einzig Bildung den Mädchen eine Perspektive wies. Sie selber war, genau wie sein Vater, noch eine Sklavin gewesen, und sie wurde nie müde zu betonen, dass sie ihre eigentliche Freiheit nicht der Abolition, sondern ihrer Ausbildung zu verdanken hatte: »Wissen hat meinen Horizont deutlich mehr erweitert als die
Lei Áurea,
das Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei.«
Lara, die kaum etwas anderes als Zank zwischen ihren Eltern kannte, fügte sich angesichts der seltenen Eintracht. Wenn beide darauf beharrten, dass sie ins Bett musste, dann
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