Unter den Sternen von Rio
Propellers waren auf ein fast unerträgliches Maß angestiegen. Wie schafften es Männer, in einer solchen Höllenmaschine den Atlantik zu überqueren?
Dennoch freute sie sich auf das bevorstehende Abenteuer. Sie hatte sich von ihrem Vater dessen Kodak-Fotokamera ausgeliehen und hoffte, schöne Luftaufnahmen ihrer Heimatstadt machen zu können. Am Wetter würde es jedenfalls nicht liegen, wenn die Bilder nichts wurden: Es war wolkenlos, die Luft klar wie selten. Sie hatte die Kamera auf ihren Schoß gelegt, damit sie während des Fluges jederzeit griffbereit wäre. Sie hoffte nur, dass sie nicht hinunterfiel, denn inzwischen erschütterte das Dröhnen des Propellers die kleine Maschine so heftig, dass Caro glaubte, aus ihrem Sitz gerüttelt zu werden.
Und dann ging es los. Das Flugzeug beschleunigte und klapperte dabei, als würde es gleich auseinanderfallen. Caro genoss es. Das war wie eine Fahrt im Rennwagen. Schneller und immer schneller wurden sie, bis António das Steuer zu sich heranzog und damit die Nase des Flugzeugs anhob. Eine Weile rasten sie auf den hinteren Rädern dahin, bis endlich auch der Rest des Flugzeugs abhob. Es war grandios! Caro hätte am liebsten laut geschrien oder gesungen vor Begeisterung. Das fürchterliche Gerappel hatte sich schlagartig gelegt, kaum dass sie die Bodenhaftung verloren hatten. Während sie an Höhe gewannen, wurde Caro in ihren Sitz gepresst, und sie wagte es nicht, sich zu rühren, geschweige denn, aus dem Fenster zu sehen. Erst als António den Steigungswinkel etwas senkte und der Druck auf ihren Körper nachließ, traute sie sich, sich ein wenig nach vorn zu beugen und den Kopf zu wenden.
Es war unbeschreiblich schön.
Die Guanabara-Bucht lag unter ihnen, mit ihren Inselchen, den vielen Schiffen und einer silbrig gekräuselten Oberfläche. Es sah so friedlich aus von hier oben. Auch die Innenstadt mit ihren Prachtbauten wirkte plötzlich still und majestätisch. Die Autos sahen winzig aus, die Menschen waren nur noch als Pünktchen zu erahnen. Sie flogen direkt in Richtung Zuckerhut, der den Eingang der Bucht markierte. Caro versuchte, aus dem Fenster ihr Elternhaus zu entdecken, aber aus der Luft war das gar nicht so einfach. Sie hatte schließlich nie die Häuser anhand ihrer Dächer voneinander unterscheiden müssen. Als sie endlich die Orientierung gefunden hatte – der Marktplatz hier, die Kirche dort, dann die palmengesäumte Allee –, waren sie schon fast darüber hinweggeflogen. Sie schnappte sich die Kamera, doch in der Zeit, die sie zum Lösen der Hülle und zum Herausziehen des Objektivs benötigte, waren sie schon über dem Zuckerhut. Obwohl die Seilbahn bereits seit fast zwanzig Jahren ihren Dienst verrichtete, war Caro auf diesen Berg erst einmal hinaufgefahren. Es war ein spektakulärer Ausflug gewesen, und ihre Angst, als die Gondel so dicht vor dem steilen Granitfelsen pendelte, wurde durch den phänomenalen Ausblick mehr als wettgemacht. Aber im Gegensatz zum Fliegen war es gar nichts gewesen.
Das Flugzeug ging in eine Rechtskurve. Caro krallte sich mit einer Hand instinktiv am Sitz fest, als könne der ihr Halt geben, wenn sie abstürzten. Aus dem Fotografieren würde wohl so schnell nichts werden. Vielleicht auf dem Rückweg. Ein Jammer, denn das Panorama war atemberaubend. Vor ihnen lag nun der perfekt gebogene Strand von Copacabana, dahinter erkannte man die Felsenspitze von Arpoador sowie den angrenzenden Strand von Ipanema. Caro fand es erstaunlich, wie unbewohnt dieser neue Stadtteil noch war, während in Copacabana gebaut wurde wie verrückt. Aus der Luft sah man deutlich die vielen Baugruben, die planierten Flächen und Rohbauten.
Sie flogen über Ipanema bis zu dem Doppelfelsen, der »Os dois Irmãos« genannt wurde, die zwei Brüder. Kurz davor legten sie sich abermals in eine Rechtskurve, um über die Lagune hinweg den Corcovado anzusteuern. Er sah beängstigend hoch aus, und Caro hatte den Eindruck, sie hätten keine ausreichende Höhe, um ihn zu überfliegen. Wenn sie nun ausgerechnet an diesem Berg zerschellen würden? Doch als sie näher kamen, bemerkte Caro, dass ihr Gefühl falsch gewesen war. Sie befanden sich mindestens hundert Meter über dem Funkmast, der auf dem Gipfel thronte. Dort hielt sie nun fieberhaft Ausschau nach Henrique.
Wieso eigentlich – sollte sie ihm etwa zuwinken?
Bestimmt nicht. Sie hatte ihrem Verlobten nichts von diesem Ausflug erzählt. Es war ihr so
verboten
vorgekommen. Dabei machte doch
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