Unter der Hand (German Edition)
Behutsamkeit wettzumachen, was an Verbundenheit fehlt. Ich erkundige mich nach seinem Bandscheiben-Prolaps und danach, ob ihm in der Fortbildung jemand gute Ratschläge geben konnte, wie man, selbst lädiert, den Lädierten hilft. Ich halte Augenkontakt, um mein inneres Abschweifen zu verbergen, ich zwinge mich, Interesse zu zeigen. Und auf einmal ist es wirklich da, ein normales Wunder, Franz erläutert, wie der Therapeut den eigenen einseitigen Belastungen vorbeugen kann, er springt auf und neigt sich zu einem imaginären Patienten, hält dabei den Rücken gerade, spricht von Hebelwirkung, zentral gelenktem Druck, Atemregulierung.
Ich finde es lustig, sage ich, dass ausgerechnet die Arbeit, für die man ausgebildet ist, dem Therapeuten dieselben Symptome beschert wie den Therapierten. Wer anderen hilft, wieder auf die Füße zu kommen, verbiegt sich selbst.
Meine kleine Kaustikerin, sagt Franz, so hoffnungslos ist die Welt nicht.
Kaustikerin? Ich bin mir nicht sicher, was es bedeutet, und schaue Franz verwirrt an. Vielleicht ist es ein Wort, das diese Nina in seinen Wortschatz importiert hat.
Ätzend, sagt Franz und setzt sich wieder, du bist ätzend oder, sagen wir mal, ein bisschen giftig. Oder würdest du auch behaupten, dass dein Deutsch schlechter wird durch die Nachhilfe, die du gibst?
Ich habe es gut gemeint, sage ich und lege meine Hand über seine. Er zieht sie hervor und drückt meine aufmunternd, auffordernd. Haben wir noch Zeit?
Wofür?
Eine kleine Entgiftung, sagt Franz und lächelt mich an.
Wir kehren in das noch warme Bett zurück, umarmen einander in aufrichtiger Dankbarkeit für die beiderseitige Entschlossenheit, was da ist, nicht geringzuschätzen. Auch wenn es keine Superlative verdient und keine Oden – oder Elegien.
Liebe Minna, sagt Franz und setzt kleine Küsse die Wirbelsäule hinab, einen pro Wirbel, und es wird eine schöne Bestandsaufnahme. Und Nachmittag darüber. Als wir zum zweiten Mal aufstehen, sind die Gewissensbisse da: Weder Lotte angerufen noch besucht, keine Pläne geschmiedet, nichts gearbeitet. Franz hat recht, mit mir ist kein Staat zu machen. Und kein Gewinn. Unter der heißen Dusche vernichte ich die Spuren von Franz und verspüre den Wunsch nach Sinn, nach gehaltvollen Aufgaben so heftig, so dringend, dass ich friere. Eigentlich müsste ich, wenn auch spät und enorm nachträglich, begrüßen, dass zur Erhaltung des Molchlebens nicht mehr getan wurde, als ein bisschen Strom in Rotlichtlampen zu speisen – eine bescheidene Investition, dann kann ich mir auch bescheidene Ergebnisse und dürftige Erträge leisten. Ich trockne mich ab, Franz tritt ein, bereits angezogen. Ich fühle mich nackter.
Bis morgen oder übermorgen, sagt er. Ahoi.
Triffst du Nina?, rufe ich ihm nach.
Aber da ist er schon fort.
Ich schminke mich, während aus dem kleinen Transistorradio im Bad die Nachrichten scheppern. Die korrekte Aussprache aller Katastrophen. Nur das Wetter ist friedlich, ruhiger Frühherbst.
Auf dem Anrufbeantworter drei Meldungen, ich habe das Klingeln unter dem Rauschen des Wassers gar nicht gehört. Die
d’Annunzios
sind zurück und planen ein großes Essen, bei dem ich bedienen soll. Sie bitten um Rückruf und dem Anlass angemessene Kleidung. Dann Lotte, krächzende Stimme, offensichtlich hat sie zu sprechen begonnen, noch bevor das Tonband abgelaufen war, denn ich höre nur noch den Halbsatz: …
in die
…
Reha nach Bogenhausen, aber ich möchte heim
.
Und dann eine Nachricht von Heinrich, ich presse den Hörer so fest gegen mein Ohr, dass es schmerzt, die Stimme ist nicht besonders tief, am Telefon höre ich den süddeutschen Anklang stärker, das rollende r, die Diphthonge getrennt ausgesprochen. Hier spricht Heinrich, sagt er, es wäre schön, dich zu treffen. Ich versuche es wieder. – Keine Nummer.
Ich gehe ins Schlafzimmer, die Knie nachgiebig, lasse mich aufs Bett fallen, den Hörer noch in der Hand. Ach, Vico, wenn du wüsstest! Längst bin ich übergelaufen, frag mich bloß nicht, wohin. Jetzt unterschlagen wir beide, du, wer weiß noch was außer Steuern, ich Steuern und Text, also Abgaben. Der Tag ist müde, noch bevor ich es bin; ich baue dennoch das Bett, weil ich an Franz nicht denken will, öffne das Fenster zur Straße. Sonntäglich still, bis auf die lauten Stimmen einer Gruppe von Jugendlichen, die zur Jugendherberge am Ende der Straße unterwegs sind. Unter dem Donnerhall ihrer Rollkoffer. Früher, denke ich, früher ging man mit dem
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