Unter der Hand (German Edition)
mich im Allgäu gezeugt, auf dem Weg zu irgendeinem hohen Tier in der Bundeswehr.
Und wie ist deine Ziehmutter so? Oder deine Zieh-Eltern? Wie kamst du zu denen?
Langweilig, sagt Anja, hab ich doch schon gesagt. Sie war eine Klassenkameradin von meiner Mutter oder sogar Freundin. Sie lebte damals allein, jetzt hat sie einen Freund. Wenn ich volljährig bin, bin ich weg. Aber sie ist in Ordnung, nur langweilig.
Mein Vater hat sich auch von seiner ersten Frau getrennt.
Parwiz packt Brötchen aus, setzt die Wasserflasche an, kaut. Anja fragt nicht nach, aber sie bleibt ihm zugewandt, auffordernd.
Ich lehne mich an Heinrich und freue mich, dass er sich aufrechter setzt, um mir eine solidere Stütze zu sein. Ich trinke Wein und betrachte mit großer Neugier die beiden Fünfzehnjährigen, hinter deren zarten Gestalten der Rappe in sinnlosen Galopp verfällt, dann in federnden Trab, um schließlich seine Mähne so heftig zu schütteln und so bildschön zu schnauben, als würde er dabei gefilmt.
Die waren im Iran ein tolles Paar, sagt Parwiz, Maler beide, und hier waren sie nichts. Reinigungsfahrer nachts in den U-Bahnhöfen, die erste Frau von meinem Vater hat umgelernt auf Krankenschwester. Irgendwann hat sie gesagt, die Gesellschaft ist krank, da nützen auch 40 Stunden nichts, und ist gegangen. Nach England wegen einem Engländer. Wegen eines Engländers. Parwiz lächelt mich an.
Und beschließt: Ich interessiere mich nicht für Politik, sie macht die Familien kaputt. Mein Vater und seine damalige Frau wollten ein besseres Leben für sich, und jetzt ist das Leben besser und die Familie kaputt.
Wärst du denn lieber in Persien aufgewachsen?, fragt Anja.
Meine Mutter wollte nicht im Iran leben. Ich habe nichts gegen hier, ich kenne nichts anderes. Aber die Familie ist kaputt.
Wie ist deine Mutter?
Parwiz grinst: Langweilig.
Wir reichen uns gegenseitig Brote, Getränke, Schokolade zu, kleine, unnötige Gesten, weil eigentlich jeder alles erreicht, aber sie bekräftigen das von allen geteilte Gefühl des Einverständnisses mit der Situation. Es ist ein fragwürdiger Zusammenschluss, die Vorsicht ist gleichfalls spürbar.
Heinrich sagt zwischen zwei Schlucken Wein, dass es aber nun nicht weiterginge wie beim Flaschendrehen und er oder ich unsere Geschichte ablieferten. Er sagt es scherzhaft, unbeteiligt, dennoch wird deutlich, dass es ihm ernst ist mit der vorauseilenden Weigerung. Ich richte mich auf und spüre seine Hand auf dem Rücken, er lässt sie dort liegen, ohne viel Nachdruck. Ich juble innerlich über die Unscheinbarkeit der Geste. Für Franz ist der Rücken eine Problemzone aus durchnummerierten pannenträchtigen Sektoren, Pannen, die er beheben muss. Auch ich verlangte das: Instandsetzung, Benutzeroberflächenwartung.
Aber, ach, die dicke Haut, früh zugelegt, sie beginnt zu spannen; ich muss nun doch wegrücken, weg von Heinrichs Hand, sonst zerspringt die Karkasse. Wissenschaftlich ausgedrückt: Die Polyneuropathie macht sich bemerkbar. Das Gewicht von Heinrichs Hand wiegt felsschwer und droht mich zu zerschmettern. Es ist ein schwieriger Moment, alle Bezüge, Routinen, Aufträge – insbesondere der Vicos –, mein ganzes auf Durchstehen eingerichtetes Leben scheint unter dem Einfluss eines einzigen Kusses zu zerbröseln, und meine Furcht, dass das, was unter den Bruchstücken zum Vorschein kommen würde, keinen Zusammenhalt böte, sondern sich als eine beliebige, notdürftige Abdeckung herausstellen würde, wächst unkontrolliert. Der Mensch, sagte der Geriatrie-Experte neulich im Frühstücksfernsehen, der Mensch ist ein exponentielles Zerfallsprodukt. Wie recht er hat. Ich fühle mich zerknittert, ausgesetzt, missraten, ältlich, zweifelhaft, verblüht und rostig. Und damit zurückgekehrt in den Lieferzustand.
Was war in der Kiste? Anja schaut mich direkt und freundlich an, und ich bemerke zum ersten Mal, wie hell ihre Augen sind. Ich bin ihr so dankbar für diesen Blick.
Und berichte vom Fund der Reitstiefel, von der Pferdewirtin, von der Ostpreußin Lotte.
Warum hast du ihr gesagt, du seist Pferdewirtin?, fragt Parwiz.
Sie ist also gar keine Angehörige?, fragt Heinrich.
Ich sage zu Parwiz: Weil es die Wahrheit ist, wenn auch nicht die Wirklichkeit.
Und zu Heinrich: Lotte ist mir zugestoßen, ihr seid mir zugestoßen.
Dann weiß ich nicht weiter.
Parwiz geht mit einem
passt schon
zur Tagesordnung über; Wind ist aufgekommen, und unsere Servietten fliegen anmutig davon. Im Hintergrund
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