Unter der Hand (German Edition)
die Stallungen wie ein Riegel, der vorgeschoben wurde. Der Rappe grast nun ruhig, sein Fell ist schweißnass.
Anja lässt den Verschluss der Thermoskanne, der uns als gemeinsame Tasse dient, herumgehen, der Kaffee ist heiß und belebend – ich atme auf. Was soll schon passieren, an einem Tag, der aus der Reihe tanzt. Ich lasse den Blick über die merkwürdige kleine Versammlung schweifen, tatsächlich könnten Parwiz und Anja Geschwister sein, schwarzhaarig, zartknochig, delikat und beharrlich zugleich. Und von der nervösen Sprunghaftigkeit, allgemein als Hyperaktivität verunglimpft, die Neugierige auszeichnet. Als unsere, Heinrichs und meine Kinder gingen sie kaum durch, aber die Augen könnte Anja durchaus von ihrem Vater haben, dieses hell-dunkel, mosaikartig gesprenkelte Blau vom Grund.
Seegrund, Flussgrund, Untergrund, Abgrund. Schwarzseherei. Wir haben uns geküsst, Minna und Heinrich haben sich geküsst, im Stall, und ich dachte dabei exzentrischerweise, dass eine Korrektur der landläufigen Auffassung, nach der es sich bei der Verkündigung um ein einfaches Erscheinen des Engels bei Maria, also um das schlichteste Sender-Empfänger-Modell handelt, angebracht sei: Nämlich die Verkündigung zu verstehen als Kuss, Speisung und Erwiderung. Der Wein zieht ausfransende Bahnen in meinem Kopf, welcher meldet: Alles wird gut. Ich spüre, wie sich innerlich alle Synapsen zum Lächeln verschalten.
Anja springt auf, komm, sagt sie zu Parwiz, wir laufen noch ein bisschen herum. Sie werfen uns im Abdrehen einen Blick zu, in dem sich Mitgefühl, Belustigung und Beschämung angesichts des tapsig-betagten Jungpaars mischen.
Beim Einpacken erzählt Heinrich von Reisen und vom Bleiben. Er erzählt gut, um Pointen angenehm unbesorgt, dann kommen Lektüren, Filme und Rezepte an die Reihe. Ein ganz und gar unscheinbares Gespräch bleibt es, auch ich berichte von diesem und jenem (allerdings nicht von Franz, ebenso wenig erforsche ich seine Verhältnisse), und wir erholen uns beide. Wir fragen uns nach Art der Verliebten ein wenig ab, wann wer wen zuerst wahrgenommen und in Betracht gezogen, warum in jenem Moment vor der Schule, nicht früher schon oder später erst. Wir gedulden uns unausgesprochen miteinander. Ich verspeise die Schokolade, die ich beiden eingepackt hatte, allein und ernte ob der Menge einige Anerkennung. Wir strecken uns abschließend noch einmal auf dem Tischtuch aus, das als Decke dient, mein Kopf auf Heinrichs Arm, er versichert mir, dass nichts drückt, und wir schauen dem Himmel dabei zu, wie er allmählich Vorbereitungen für die Dämmerung trifft.
Wir stehen auf, schütteln die Decke aus, falten sie zusammen, ein Gefühl stellt sich ein, in diesen Verrichtungen als Paar bereits so geübt zu sein, dass die Bewegungen harmonieren. Vom Liegen schmerzen Beine und Rücken. Dort, wo wir picknickten, ist das Gras niedergedrückt, eine Spur unserer Anwesenheit, ich betrachte die umgeknickten Halme mit nicht ganz verständlicher innerer Bewegung. Wir haben uns abgezeichnet.
Auf dem Weg zum Auto legt Heinrich den Arm um meine Hüfte; jetzt habe ich einen Breitengrad, denke ich, mein Ort lässt sich bestimmen. Noch vor zwei Stunden hätte ich vermutlich befürchtet, er könne mich unförmig finden, Rückkehr zum
molligen Charme
, der am falschen Ort besungen wurde. Und es kann leider sein, dass ich es heute Nacht, bei einer Revue der Ereignisse, wieder tun werde. Es fällt mir schwer, Gutes zu beheimaten, ich lasse es gern auswandern. Immerhin findet es nun auf dem Papier ein Asyl.
Das Gestüt liegt im Glanz des kommenden Abends; ich drehe mich noch einmal um und speichere es ab: als märchenhaftes Lichtbild, als Verewigung des Vergänglichen.
Parwiz und Anja warten am Auto auf uns, ich hatte gehofft, sie unterwegs zu treffen und ein Wettrennen zum Parkplatz zu starten – die Idee stammt wohl aus der Datei
Glückliches Familienleben
oder aus der Ramschkiste irgendeiner Vorabendserie. Meine Immunabwehr gegen Sentimentales ist nachweislich und dem Siebenmonatsstand entsprechend, unterentwickelt, schnell stehen mir die Tränen in den Augen: Wie geschildert, beim grasenden oder galoppierenden Pferd auf der Koppel, beim Liebespaar, das, höchst routiniert, in der Schlussszene seine Liebe bekennt, beim Rebellen, der auf diese zugunsten höherer Aufgaben verzichtet, aber auch beim Anblick eines Kindernackens, der so zart und wehrlos ist, dass man glauben könnte, bereits der zu feste Blick darauf wäre
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