Unter der Haut (German Edition)
Qualifikationen Lenin verfügte. Wenn man uns damals gesagt hätte, dass wir die Personifizierung von Neid, Rachsucht und Ignoranz seien, und wir – eher unwahrscheinlich – auch noch bereit gewesen wären, das zu glauben, dann hätten wir nicht anders reagiert als die Menschen, die von diesem oder jenem Priester behaupten, er sei pflichtvergessen oder gar kriminell: Er ist der Vertreter Gottes auf Erden, und seine persönlichen Qualifikationen haben mit der großen Sache nichts zu tun. Wir hielten uns für die Personifizierung des von der Geschichte eingeschlagenen Weges. Der Charakter eines jeden von uns war genauso sympathisch oder unsympathisch wie in jeder anderen Phase unseres Lebens auch: Gleichzeitig träumten wir andauernd von Utopien. Vielleicht gibt es da eine Verbindung.
Allerdings veränderten wir uns, und zwar rasch. Das heißt die meisten von uns. Gottfried änderte sich nicht – so schien es jedenfalls. Für einige Zeit wurde er zu einem Wegzeichen oder einem Monolithen, an dem wir uns orientierten. Sogar die Art, wie er bei unseren Treffen dasaß, aufmerksam, schweigend, wurde zum Vorbild. Nichts ist einfacher, als Menschen dadurch zu beeindrucken, dass man schweigt und sich später mit wenigen entschiedenen Worten einmischt. Dazu bedarf es natürlich einer entsprechenden Persönlichkeit, und die besaß Gottfried. Hatte er diesen Trick durch Zufall entdeckt? Schwieg er zunächst, weil er schüchtern war, und bemerkte erst, als er sich zum Reden zwang, die Wirkung, die er sich fortan zunutze machte? Alle hatten Angst vor diesem kalten, schweigsamen Mann mit seinen funkelnden Brillengläsern, die er immer dem jeweiligen Sprecher zuwandte, wobei er stets dafür sorgte, dass sein stechender Blick seine Miss- billigung zum Ausdruck brachte. Wenn die Menschen ihn näher kennenlernten, änderte sich ihre Einstellung, machte Toleranz oder heiterer Zuneigung Platz. Aber er unterschied sich so sehr von den anderen, dass seine Autorität nie infrage gestellt wurde. Das Problem war, dass er ein intellektueller Kommunist war und damit zu einer Gattung gehörte, von der man uns vielleicht schon einmal erzählt hatte, mit der wir aber nichts anzufangen wussten. Seine Margaret hatte ihm den Marxismus als ein gedankliches System nahegebracht, ohne jemals selbst schlechte Zeiten erlebt zu haben, und er hielt die Reinheit der Lehre aufrecht, indem er die marxistischen Klassiker las. Konzepte, Ideen und Klassifizierungen entsprachen seinem Temperament. Eine Idee bringt andere Ideen von der gleichen Art und Grundstruktur hervor, und das wird auf dem Feld der Politik vielleicht am deutlichsten. Logische Verknüpfungen führen von einer Prämisse zu den daraus folgenden intellektuellen Positionen, und diese wiederum finden ihren Ausdruck nicht selten in scheußlichen Grausamkeiten. Arthur Koestler geht in seinem Buch
Sonnenfinsternis
der Überzeugungskraft des Kommunismus nach. Es war kein Zufall, dass einigen von uns Tränen in die Augen schossen, als wir hörten, dass Stalin die Gewohnheit hatte, seine Hand auf die Erde zu legen – als Symbol für »das Leben selbst«. (Wenn das vielleicht auch gar nicht stimmte, wir glaubten es jedenfalls.) In unseren Köpfen herrschte ein Durcheinander von schlecht verdauten Ideen, und auf die eine oder andere Art war uns klar, dass wir jemanden brauchten, der uns die Richtung wies.
Gottfried war immer im Recht. Sein klarer, kühler Verstand sagte ihm, dass es so war. Im Scherz sagten wir immer – »wir«, das waren die von ihm so verachteten Menschen aus den Kolonien –, dass er einen guten Inquisitor abgegeben hätte. Als er davon erfuhr, fasste er es als Kompliment auf. Jemand, der die Gruppe zornentbrannt und maßlos enttäuscht verließ, schrie ihn an, dass er zu den Leuten gehöre, die vor dem Frühstück hundert Menschen erschießen würden, weil diese »die Linie« falsch verstanden hätten, und hinterher ausgiebig und mit Genuss speisen könnten. »Das stimmt nicht«, antwortete Gottfried in seiner schleppenden Art, »ich würde jemand anderem befehlen, sie zu erschießen.« Wir lachten: Hört euch Gottfried an! Lange Zeit dachte ich: Ja, es ist ganz einfach – wenn man Tag und Nacht Lenin und Stalin liest, dann wird politischer Mord nicht nur zur Pflicht, sondern zur Heldentat. Niemand aber hat eine ganz einfache Struktur, nicht einmal Gottfried, der sich heftig bemühte, so zu wirken, als wäre er vollkommen aus einem Guss. Später begriff ich, dass sein
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