Unter der Haut (German Edition)
Typus in revolutionären oder linken (und, soviel ich weiß, auch in rechten) Kreisen weit verbreitet ist. Diesen Männern fällt es schwer, einfache, gewöhnliche, ungezwungene Freundschaften und Liebesverhältnisse einzugehen, weil sie sich hinter den Mauern kalter Autorität verbarrikadieren. Gottfried schien in einer Rüstung aus Überheblichkeit zu stecken. Gut, und was ist Überheblichkeit? Hier beginne ich wieder mit Spekulationen, die mich damals schon so viel Zeit gekostet haben: Ist Überheblichkeit immer nur dazu da, Schüchternheit zu verschleiern? Lässt sich Schüchternheit so einfach in den Griff kriegen? Ich wurde aus Gottfried nicht klug. Und bis heute weiß ich nicht, woran das lag.
Jahrzehnte später war ich im Auftrag des British Council in München, als nach der Lesung eine reizende ältere Dame auf mich zukam und sich mir als Gottfrieds erste feste Freundin vorstellte. Diese Szene entbehrte nicht einer gewissen Komik, schließlich waren wir von unzähligen Menschen umgeben, deren Bücher ich signieren sollte. Hinzu kommt, dass jedes Mal, wenn heute zwei Menschen der gleichen Altersgruppe aus Deutschland und aus Großbritannien aufeinandertreffen, die Erinnerung an die beiden Kriege zwischen ihnen steht, der Gedanke daran, dass sie Feinde waren, dass ihre Eltern Feinde waren – eine belastende, drückende und schmerzvolle Ungläubigkeit schwingt in der Frage mit:
Wie konnte das nur passieren?
, wie eine Verletzung, die man zwar nicht sieht, von der aber beide wissen, dass sie da ist. In dem Vortragssaal herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, während sie ein Bild von dem Haus an dem Berliner See zeichnete, ein Bild, aus dem deutlich hervorging, wie sehr es ihr dort gefallen hatte. Sie war damals ein sehr junges Mädchen gewesen, eingeschüchtert von der russischen Mutter, einer impulsiven und großzügigen Gastgeberin, die immer noch russisch sprach, von dem gelehrten Vater und von der russischen Kinderfrau, deren Macht über die Familie so weit reichte, dass sie allen sagte, was sie anziehen oder essen sollten. Gottfried war damals zwanzig Jahre alt, strahlend schön und elegant. Aber: »Ist es Ihnen je in den Sinn gekommen, verehrte Frau Lessing, dass Gottfried etwas an sich hatte, das … etwas … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.« »Ja, natürlich, etwas … aber was?« »Ich war seine erste feste Freundin. Ich habe mich immer gefragt …« »Ja, ich weiß, aber ich kann nicht so recht …« »Er war nicht wie andere Menschen.« »Nein, ein seltsamer Mensch.« »Ob an ihm vielleicht etwas fehlte?«, überlegte sie zögerlich. Aber ein Mensch ist kein Puzzlespiel. Denken Sie bloß nicht, dass sich da zwei ordinäre alte Weiber unterhielten. Unser Interesse galt etwas anderem, dieser Beklommenheit, die die Menschen im Umgang mit Gottfried empfanden. Aber wer will schon danach beurteilt werden, wie er mit zwanzig war?
Unser Liebesleben war traurig. Er war zutiefst puritanisch und gehemmt. Ich hätte mir ohne Weiteres vorstellen können, dass er noch nie mit einer Frau geschlafen hatte, aber das stimmte ja ganz offensichtlich nicht. Na schön, dann fand er mich vielleicht nicht attraktiv genug? Aber er zeigte doch sonst alle üblichen Anzeichen dafür. Ein alter Witz bei uns – der wahrscheinlich immer noch in Umlauf ist – besagt, dass manche Männer auf feuriges oder sogar schon auf normales Liebesspiel genauso reagieren wie ein weißer Boss oder Bwana auf allzu große Vertrautheit vonseiten eines schwarzen Untergebenen: Bloß nicht zu nahe kommen lassen. Eine Liebkosung, die ihn allzu sehr erregte, und nicht einmal eine Liebkosung seines Geschlechts, ließ ihn abweisend und wütend werden. Trotzdem schien er eine Ahnung von der Kraft der Sinnlichkeit zu haben, denn über ein Flüchtlingspaar aus Jugoslawien – das auf anderen Gebieten offensichtlich schlecht zusammenpasste, denn sie war intelligent und er dumm – machte er einmal die Bemerkung: »Man muss verstehen, dass es Paare gibt, die wegen des Vergnügens im Bett zusammenbleiben.« Was mich anbelangt, kann ich allerdings nur sagen, dass er vom Vergnügen im Bett ganz und gar keine Ahnung hatte, und dabei war ich zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht in die etwas wilderen Sphären der körperlichen Liebe vorgedrungen. Mir war das alles ein Rätsel. Ich dachte damals viel darüber nach, grübelte und überlegte und versuchte, mir auf das Ganze einen Reim zu machen … Wie viel Zeit ich damals bloß mit
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