Unter der Haut (German Edition)
gezwungen. Nach der Scheidung, die genauso wie das Heiraten eine Formalität war, würden wir gute Freunde bleiben und gemeinsam die Verantwortung für das Kind tragen. Später würden wir beide viel zu beschäftigt sein, um ein Kind »dazwischenschieben« zu können. Wie brachte er seine ungebrochenen kommunistischen Überzeugungen mit seiner Tätigkeit als Berater eines Teils der britischen Industrie in Einklang – einer Aufgabe, von der er wusste, dass er sie mit Sicherheit gut erfüllte? Überhaupt nicht. In diesen letzten Jahren, bevor er Rhodesien verließ, ließen sich Menschen von ihm darin beraten, wie sie Firmen gründen, Gewinne machen und Geld investieren sollten – und das alles spielte sich in einem Teil seines Bewusstseins ab, parallel zu den Gedanken des Genossen Gottfried. Angenommen, er wäre tatsächlich nach England gegangen und dort Wirtschaftsberater geworden: Hätte er einen erneuten Sinneswandel durchgemacht und wäre, wie seine Eltern, ein guter Liberaler geworden? Daran zweifle ich. Er hätte zu jenen Menschen gehört – von denen ich sehr viele kennengelernt habe –, die die kommunistische Gedankenwelt in einem Teil ihres Bewusstseins intakt halten, während sie ein durchaus konventionelles bürgerliches Leben führen.
Nachdem wir uns ungefähr einen Monat lang darum bemüht hatten, wurde ich um Weihnachten 1945 herum schwanger, zum allgemeinen Jubel – das heißt zum Jubel der Genossen. Das erste Kind, das in eine Gruppe von jungen Menschen hineingeboren wird, die alle gerade geheiratet haben, bald heiraten werden oder bald zu heiraten hoffen, ist ein Glückskind, das die Hoffnungen aller verkörpert. Gottfried war begeistert. Er meinte, es müsste nett sein, so einen kleinen Kerl zu haben, der in der Gegend herumkrabbelt und in die Windeln pinkelt. Man beachte, dass das Kind ein Junge sein sollte. Die Frauen mahnten im Scherz, dass sich Gottfried hoffentlich auch am Windelnwechseln beteiligen werde. Der Feminismus ist nicht erst in den sechziger Jahren geboren.
Mein Vater sagte: »Warum hast du vorher zwei Kinder verlassen, wenn du jetzt ein drittes bekommst?« Auch meine Mutter machte mir heftige Vorwürfe.
Heute denke ich, dass unsere rationalen und intelligenten Gespräche vollkommen an der Sache vorbeigingen. Ich glaube, dass damals das Gleiche vorging wie 1939 , als ich mit John schwanger geworden war und dann, so kurz darauf, mit Jean: Mutter Natur schuf wohl einen Ausgleich für die Millionen von Toten. Hier gab es diese gesunde und fruchtbare junge Frau, die sich hervorragend als Mutter eignete. Außerdem wünschte ich mir auch selbst sehnlichst noch ein Kind.
Aus dieser Lebensphase stammen zwei Erinnerungen, die mit zunehmendem Zeitabstand immer mehr Bedeutung gewinnen. Die eine hat damit zu tun, dass die Russen beschlossen, deutsche Offiziere, die Kriegsverbrechen begangen hatten, zu hängen, und zwar öffentlich, auf einem bühnenartigen Podest. Von überall her wurden Proteste gegen diese Barbarei laut. Das heißt, dass die Welt nach fünf Kriegsjahren voll Gräueltaten aller Art noch immer in der Lage war, auf eine geplante öffentliche Hinrichtung zu reagieren: Es sei eine Rückkehr ins Mittelalter, in die Unzivilisiertheit und so weiter. Und man hörte wieder Töne, die man seit 1941 nicht mehr gehört hatte, weil man Bemerkungen wie »Die Russen sind alle Wilde« in dieser Zeit auf Eis gelegt hatte. Plötzlich hieß es wieder: »Die Russen mit ihrer typischen Brutalität und ihrer Verachtung der öffentlichen Meinung …« Ein vergleichbares Ereignis würde heute kaum noch zur Kenntnis genommen. Wir sind mit Grausamkeiten überfüttert. Wer würde heute protestieren? Während ich an diesem Buch schreibe, ereignen sich im ehemaligen Jugoslawien unsägliche Grausamkeiten. Klar, wir registrieren, dass sie passieren. Aber sind wir schockiert? Ich glaube nicht.
Das andere Ereignis: Simon Pines hielt vor dem Left Club ein Referat über den Sturz Hitlers und den Zusammenbruch des Nationalsozialismus. Es endete mit den Worten, dass Deutschland schon sehr bald wieder unser Verbündeter sein werde. Der Protest der zwei- oder dreihundert anwesenden Menschen war so gewaltig, dass wir später witzelten, Simon könne von Glück sagen, dass er nicht gelyncht worden sei. Noch ungewöhnlicher war eine andere Bemerkung, die er ziemlich beiläufig fallen ließ: Man erwarte von uns, dass wir uns vor Russland fürchteten, aber er fürchte sich tausendmal mehr vor Amerika.
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