Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
Korea-Krieg, zu dem es fünf Jahre später kam, dieser grauenhafte »kleine« Krieg, war ein Schock, genauso wie die wütenden Kriege im ehemaligen Jugoslawien das Selbstverständnis Europas heute erschüttern.
Es war schlicht und einfach unmöglich
, dass die Menschheit nach den unbeschreiblichen Schrecken des Zweiten Weltkriegs den Korea-Krieg zulassen konnte. Die Nachrichten, die Gottfried aus Deutschland erhielt, erinnerten uns wieder an das, was er uns von seiner Familie erzählt hatte: von der Gräfin mit ihren Gesellschaften; von der ach so liebevollen Kinderfrau, von dem gelehrten Vater, von der Schwester, deren Verlobter, wie Gottfried in seiner schleppenden Art sagte, »der ewige Student« war, der es nie zu etwas bringen würde. Bei Kriegsausbruch hatten sich Klaus und Irene nicht in Deutschland aufgehalten. Sie waren aber nach Deutschland zurückgekehrt und begaben sich in Lebensgefahr, weil sie meinten, dass das ihre Pflicht als Kommunisten wäre.
    Die Mutter verhielt sich, als gäbe es keinen Krieg. Obwohl es unter Androhung der Todesstrafe strikt verboten war, BBC zu hören, tat sie es in aller Offenheit. Die Familie behauptete, sie sei verrückt. Obwohl einmal sogar SS -Leute im Haus einquartiert wurden, kam die Mutter ungestraft davon. Klaus Gysi war Jude, und Irene versteckte ihn vor den Nazis, einmal sogar im Haus selbst. Der Vater von Klaus war Arzt: Er schaffte es, dass der Name seines Sohnes von der Todesliste gestrichen wurde, indem er bei einer Frau, die zu den oberen Zehntausend der Nazigesellschaft gehörte, eine Abtreibung vornahm. Als mit dem Kriegsende die Hungerzeit einsetzte, marschierte Irene, eine kleine, schmächtige Frau, zwei-, dreimal die Woche meilenweit aufs Land hinaus und schleppte auf dem Rücken einen Sack Kartoffeln nach Berlin zurück, den sie bei den Bauern gekauft hatte. Damit konnte die Familie überleben. Der ewige Student wurde später in Ostdeutschland ein hoher Staatsbeamter.
    Nachrichten über die Vernichtungslager der Nazis erhielten wir zuerst über Hans Sen, der als Vertreter des Roten Kreuzes gerüchteweise davon gehört, aber nur die Hälfte geglaubt hatte. Nicht selten saßen er und Gottfried in unserer Wohnung oder in einem Café zusammen und schwiegen. Und wenn sie doch miteinander redeten, hörte es sich an, als würden sie sich Säure auf das eigene Fleisch tröpfeln. Sie hatten zwar in fast sämtlichen Fragen gegensätzliche Standpunkte, teilten jedoch, ohne dass sie sich dessen bewusst zu sein schienen, eine gewisse Geisteshaltung, eine Ironie, eine Skepsis in Bezug auf die Errungenschaften der Zivilisation, die im Klang ihrer Stimmen zum Ausdruck kam, wenn auch nicht in ihren Worten. (Diese Skepsis ist es, die Europa von Amerika trennt.) Manchmal saßen zehn oder zwölf Menschen bis spät in die Nacht oder sogar bis zum Morgengrauen in unserem Zimmer, hörten die Nachrichten und diskutierten anschließend darüber. Zur selben Zeit wurde die Pazifikschlacht geschlagen, wurden in Japan Städte in Schutt und Asche gelegt. Was wir vor unserem geistigen Auge sahen, wenn wir an Japan dachten, ergab aufgrund von Unkenntnis ein falsches Bild. Bei Kriegsende sprachen nur wenige Menschen von »guten Deutschen«. Es gibt ein – zu Unrecht unbeachtet gebliebenes – Buch mit dem Titel
Denn dieser Tage Qual war groß. Bericht eines vergessenen Soldaten
, von einem gewissen Guy Sajer. Er schildert, wie er als sehr junger und unwissender Soldat an der Russlandfront kämpfen und dann – als die Russen vorstießen – den Rückzug antreten musste, weiter und immer weiter, manchmal tagelang ohne etwas zu essen, mitten im Winter, nur mit dünnen Kleidern am Leib und löcherigen Stiefeln an den Füßen. Er war zur Hälfte Franzose und zur Hälfte Deutscher. Nur durch Zufall kämpfte er auf der Seite der Deutschen. Die meisten jungen Männer, mit denen er kämpfte, verloren ihr Leben. Nachdem er jahrelang als Soldat für Hitler gekämpft hatte, bekam Guy Sajer (ein Name, der sowohl französisch als auch deutsch ausgesprochen werden kann – und auch ausgesprochen wurde) das Angebot, der Besatzungsarmee beizutreten, und zwar von einem französischen Offizier, der das Leben dieses halb verhungerten Gespenstes, kaum älter als zwanzig Jahre, unbedingt retten wollte. Aus diesem Buch spricht ein dunkler und wuterfüllter Schmerz, ein Begreifen, das man nicht »Protest« nennen kann – denn die Erfahrungsebenen, die es enthüllt, reichen tiefer. Als ich das Buch etliche

Weitere Kostenlose Bücher