Unter der Haut (German Edition)
Jahre später las, erkannte ich die Stimmung der Flüchtlinge wieder, mit denen ich damals in Salisbury in Südrhodesien befreundet gewesen war – ebenso wie die meines Vaters. Wenn er sich damals ständig an den vergangenen Krieg erinnerte, so war das ein Schutzmechanismus, der ihn davor bewahrte, zu viel über den aktuellen nachzudenken. Dieser Krieg beunruhigte ihn dermaßen, dass meine Mutter sogar die Zeitungen versteckte. Doch sie konnte nicht verhindern, dass er Radio hörte. Dann saß er da, atmete stoßweise und starrte ins Leere, während er im Geiste die Bomben auf japanische Städte fallen sah und den Rückzug der Japaner von einer Insel auf die nächste beobachtete. »Alles gut und schön …«, murmelte er immer wieder. »Aber wer hat denn Schuld? Wir haben den Krieg nicht angefangen, das waren die.« Als hätte ihn jemand beschuldigt. »Warum mussten sie das auch tun, warum haben sie Pearl Harbor bombardiert? Warum? Ihr werdet schon sehen, was jetzt passiert.« Und täglich, als hätte er gerade erst davon erfahren, sagte er, dass Harry wegen des Geschützfeuers im Mittelmeer so schwerhörig geworden sei: Er war in einer berühmten Hals-Nasen-Ohren-Klinik in England. »Aber es hätte nicht dazu kommen müssen«, flüsterte er oft, und seine knochige Hand schloss sich fest um mein Handgelenk. »Wenn man nur auf Churchill gehört hätte …« Und kurz darauf: »In den Schützengräben, da haben wir …«
Jedes Mal, wenn ich das Haus verließ, winkte ich den jungen Männern von der Royal Air Force, Schützlingen meiner Mutter, die auf den Steinstufen zur Veranda herumsaßen und mit dem kleinen Hund spielten, munter zu. Der Krieg war noch vor dem Abschluss ihrer Ausbildung zu Ende gegangen, und deshalb würden sie wohl für immer das Gefühl haben, dass ihr jugendliches Alter sie von den wirklichen Erfahrungen des Lebens abgehalten hatte. Wenn ich wegfuhr, erzählten sie sich vielleicht, dass ich die Tochter des Hauses sei, die einen Deutschen geheiratet habe und die die Kaffern zum Widerstand aufstachele und so weiter und so fort. Wenn sie in der Kolonie geblieben wären, hätten sie sich ohne jede Mühe angepasst.
Als die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, fanden wir das nur unwesentlich schlimmer als die völlige Zerstörung von Tokio, Osaka, Dresden oder Coventry. Das einzige Gefühl, das uns beseelte, war: Gott sei Dank ist der Krieg vorbei. Erst später erfuhren wir, dass der Krieg ohnehin zu Ende gegangen wäre, und zwar schon sehr bald.
Gottfried hatte sich entschieden, nach England zu gehen, wobei mein Wunsch, in London zu leben, für ihn nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte. Er würde nicht der erste Lessing sein, der Engländer wurde: Ein Cousin von ihm war erst vor Kurzem Parlamentsabgeordneter gewesen. Und auch andere Mitglieder dieses erfolgreichen Clans hatten in Großbritannien gelebt und gearbeitet. Gottfried wollte so lange in Salisbury ausharren, bis er die britische Staatsbürgerschaft in der Tasche hätte. Heute, im Nachhinein, erscheint seine Ängstlichkeit eigentlich als unnötig: Die britische Staatsbürgerschaft wäre ihm wohl mit fast hundertprozentiger Sicherheit zugesprochen worden. Immerhin hatte er sich in der Juristengemeinde inzwischen einen Namen gemacht. Doch nach zehn Jahren Exil in einem fremden Land fühlte und dachte er wie ein Flüchtling, das heißt wie jemand, der unerwünscht ist. Außerdem war er Kommunist und hatte jahrelang in der Angst gelebt, ins Internierungslager zurückgeschickt zu werden, weil er dem offiziellen Verbot zum Trotz politisch aktiv war. Er hatte das Gefühl, dass man ihm die Einbürgerung nicht ohne Weiteres zugestehen würde. Er wollte, dass ich mit ihm gemeinsam abwartete, bis er britischer Staatsbürger geworden wäre, bevor wir uns scheiden ließen. Eine Scheidung sei ein Makel, sagte er, und werde die Waage vielleicht zu seinen Ungunsten ausschlagen lassen. Ich war einverstanden. Wir gingen davon aus, dass die Sache vielleicht noch ein paar Jahre dauern würde. Da konnten wir in der Zwischenzeit genauso gut ein Kind bekommen. Und genau auf diese unbeschwerte Art erzählten wir unseren Freunden davon: »Wir schieben jetzt schnell ein Kind dazwischen, weil wir nichts Besseres zu tun haben.« Unsere Gespräche darüber waren, oberflächlich betrachtet, ein Ausbund an Sachlichkeit und praktischem Denken. Schließlich hatten wir nie vorgehabt, verheiratet zu bleiben: Die Umstände hatten uns zur Heirat
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