Unter der Haut (German Edition)
stammelnd versichert habe, dass es mir selbstverständlich nichts ausmache, während ich das Gefühl hatte, alles Leid dieser Welt in mir zu spüren. Wieso hatte Mary Peach, die reich und eben erst aus England zurück war, wo ich nicht hinkonnte – denn das Motiv der absoluten Unerreichbarkeit Englands hatte sich in meinem Kopf bereits festgesetzt –, wieso hatte sie das Recht, Sybil Thorndike zu sehen? Ungerechtigkeit, ein Verstoß gegen die Fairness … Bitterkeit. Ich wüsste gern, woher es rührte, dass das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, so heftig war? Ich war sieben Jahre alt. Hier handelte es sich nicht bloß um ein sogenanntes »angeborenes« kindliches Ungerechtigkeitsgefühl: Wenn sich ein Kind ungerecht behandelt fühlt, heißt das, es fühlt sich um Liebe betrogen, aber was ich spürte, war soziale Ungerechtigkeit. Mir fällt nichts in meinem Leben ein, das für mich grausamer war als diese Enttäuschung, die mir vorkam wie der Inbegriff der Gleichgültigkeit der Welt. Das musste von meinen Eltern herrühren, vor allem von meinem Vater, dessen murmelnde Stimme ich den ganzen Tag über und bis in den Schlaf hinein hörte, wie sie vom Krieg erzählte, vom Verrat an den Soldaten, von der Niederträchtigkeit und Dummheit und Korruptheit der Regierung, von gerechten Erwartungen und von Vertrauensbruch.
Meine Mutter beschloss, uns bei einer Mrs. Scott unterzubringen, die Farmerkinder aufnahm, damit sie die Schule in Avondale, einem Vorort von Salisbury, der damals noch am äußersten Stadtrand lag, besuchen konnten. Ich kam zunächst in eine Klasse, die meiner Altersstufe entsprach, wurde dann aber sofort, ich glaube, zwei Klassen höher versetzt. Dort entdeckte ich die Freude an der Leistung, denn die Lesestücke waren anfangs zu schwer für mich, und ich konnte nicht wie sonst Passagen nach Belieben überspringen. Insbesondere in einer Geschichte, der gekürzten Fassung einer Erzählung für Erwachsene, in der ein Mann auf See in einen Strudel gerät, fast ertrinkt, aber dann vom Meer nach oben gespült wird, wimmelte es von völlig unbekannten Wörtern wie
Malstrom
und
Wirbel, Überschwemmung
und
Zurückfließen.
Ich starrte bedrückt und hilflos darauf, aber dann kam mir »der Kontext« zu Hilfe – und in null Komma nichts hatte ich diese schwierige Geschichte verstanden. Gibt es eine Freude, die größer ist als kindliche Entdeckungsfreude? Doch wenn die Schule selbst nichts als Freude bereitete, so brachte das Leben bei Mrs. Scott nichts als Kummer und Kälte. Mrs. Scott war alles andere als sanft und vornehm. Es gab auch einen Mr. Scott, der bei dem bekannten Mr. Laws mit der Holzkonzession arbeitete. Meine Mutter hatte ihre beiden Kinder einmal mit Biddy für ein paar Tage in das Holzfällerlager geschickt, wieder einmal eine Gelegenheit, ihnen nützliche Erfahrungen zu ermöglichen. Wir wohnten dort zum ersten Mal in einem Zelt, umgeben von mächtigen Bäumen, in denen unzählige Zikaden saßen. Ein Baum nach dem andern wurde gefällt und zu Feuerholz für Tabakspeicher und Schmelzöfen verarbeitet.
Da ich schon früh ein soziales Wesen war, das nur allzu gern bereit war, einen Kreis von Leuten mit netten Informationen über andere zu erfreuen, erzählte ich Mrs. Scott, dass Mr. Scott, ihr Gatte, Biddy eine gute Nacht gewünscht habe, als sie schon im Unterkleid war. Der Ton, in dem ich dies erzählte, war der meiner Eltern – weltklug und missbilligend. Ich hatte keine Ahnung, was ich da erzählte. Wenn Mr. Scott die Arme um Biddy gelegt und seinen nach Pear’s Seife duftenden Bart an ihr Ohr gepresst hatte, so war das für mich nur ein Zeichen liebevoller Menschenfreundlichkeit, nach der auch ich mich sehnte. Mrs. Scott aber fasste sofort eine tiefe Abneigung gegen die Übermittlerin dieser schlechten Nachricht und machte ihrem Mann eine laute, unangenehme Szene.
Ich hasste sie. Sie war eine große, hässliche Frau, die nach altem Schweiß roch. Und er war auch groß und stank. Man konnte ihnen Tag und Nacht nicht aus dem Weg gehen. Ihr Bett stand auf der Veranda, direkt vor dem Fenster, unter dem sich meins befand. Ich ging nicht gern in mein Bett. Es hatte eine Decke aus Wildkatzenfell. Felldecken benutzte damals jeder, denn sie kosteten nicht mehr als eine Kugel und die Arbeit des Mannes, der die Felle mithilfe von Salz und Wind gerbte. Eine solche Decke roch immer, vor allem in der Regenzeit. Die Decke auf meinem Bett war schlecht gegerbt und muffig. Ich lag im Bett
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